: 16 Millionen bleiben drüben
■ Ungarische Regierung läßt rund 6.500 DDR-BürgerInnen ausreisen / Grenzen seit Montag, Null Uhr, offen / Budapest kündigt Teile des bilateralen Reiseabkommens mit der DDR / Lage der 400 BesetzerInnen der Prager Botschaft war bis Sonntag abend unverändert
Budapest/Prag (afp/dpa/taz) - Die ungarische Regierung hat am Sonntag beschloßen, ab Mitternacht die seit mehreren Wochen auf drei Lager in Ungarn aufgeteilten 6.500 DDR -Flüchtlinge „in das Land ihrer Wahl“ - in diesem Fall die Bundesrepublik - ausreisen zu lassen. Nach Angaben eines offiziellen Kommuniques, das von der ungarischen Nachrichtenagentur MTI verbreitet wurde, kann „jeder sich in Ungarn aufhaltende DDR-Staatsbürger von Mitternacht an das Land in Richtung des von ihm gewünschten Zieles unter der Bedingung verlassen, daß die Behörden des Aufnahmelandes sie aufnehmen“. Nach Angaben von MTI können die Flüchtlinge auch mit ihren Privatautos ausreisen.
„Die ungarische Regierung hat für unbestimmte Zeit das 1969 mit der DDR unterzeichnete Abkommen aufgehoben“ schreibt MTI. Dieses Abkommen untersagt beiden Ländern, jene Staatsbürger des jeweiligen anderen Landes in den Westen ausreisen zu lassen, die nicht über gültige Ausreisegenehmigungen verfügen. In der Praxis wurden in den sozialistischen Ländern die in ein anderes „Bruderland“ geflüchteten Staatsbürger in ihr jeweiliges Ursprungsland zurückgeschickt. Eine Ausnahme bildeten seit zwei Jahren nur die rund 30.000 rumänischen Flüchtlinge, die sich derzeit in Ungarn aufhalten.
Nach österreichischen Angaben werden drei ungarisch -österreichische Grenzübergänge speziell für die Flüchtlinge geöffnet. Die DDR-Staatsbürger, die über keine bundesdeutschen Reisedokumente verfügen, können ohne Visum Österreich durchqueren, nachdem das Wiener Innenministerium kurzfristig die Visa-Pflicht für DDR-Bürger aufgehoben hat. Der Leiter des Budapester Lagers Zugliget, Wolfgang Wagner vom Malteser-Caritas-Dienst, sagte zuvor, daß die Habseligkeiten verzollt und vom Malteserdienst in die Bundesrepublik geschickt würden. Etwa 1.000 Menschen wollen mit ihrem PKW in die Bundesrepublik übersiedeln.
Inzwischen seien Erholungsheime der Gewerkschaften am Plattensee bis zum 10.Oktober angemietet worden, berichtete die ungarische Zeitung 'Sonntagsnachrichten‘. Dort sollen DDR-Flüchtlinge untergebracht werden. Politische Beobachter gehen davon aus, daß der Schwerpunkt der Flüchtlingskonzentration von Budapest in die Provinz verlegt werden soll und daß sich Ungarn auf einen weiteren Zustrom von DDR-Ausreisewilligen in der kommenden Woche einstellt. Nach dem Zeitungsbericht meldeten sich in Zanka Fortsetzung auf Seite 2
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im Plattensee am Samstag auch Flüchtlinge aus Rumänien, der CSSR und der Sowjetunion. Sie seien jedoch abgewiesen worden. Illegal kamen in der Nacht zum Sonntag 26 DDR-Bürger über die Grenze nach Österreich. Am Samstag waren es 60 bis 70 Flüchtlinge.
Die Lage der rund 400 Flüchtlinge - zu Beginn der vergangenen Woche waren es 250 - in der Botschaft der Bundesrepublik in Prag ist nach dem Auszug der 117 DDR -Bürger aus der Bonner Vertretung in Ost-Berlin unverändert. „Wir bleiben hier, uns bringt hier keiner weg“, sagte einer der DDR-Bürger, die in Zelten und in den Büroräumen der Mission wohnen. Die Nachricht von der veränderten Lage in Ost-Berlin nahmen sie anscheinend gelassen auf. Offenbar warten sie auf den Besuch des Ostberliner Rechtsanwalts Wolfgang Vogel am Montag, der in Prag auch schon bei früheren Flüchtlingsaktionen vermittelt hatte. Die CSSR -Presse hob in der Berichterstattung über die Räumung der Bonner Vertretung in Ost-Berlin hervor, daß den DDR-Bürgern „Rechtsbeistand, nicht Ausreisebewilligung“ zugesagt worden sei.
Die DDR-Zeitungen meldeten kommentarlos den Auszug der 117 DDR-Bewohner aus der Bonner Ständigen Vertretung. In den Blättern erschienen zwei 'adn'-Meldungen unter den Überschriften „Vernunft gewann Oberhand“ und „Erklärung der Ständigen Vertretung der BRD“. Den DDR-Bewohnern, die mehrere Wochen lang in der Bonner Mission ausgeharrt hatten, war von Vogel Straffreiheit und an
waltliche Betreuung bei ihrem Ausreiseantrag zugesichert worden.
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