Aufrecht in den Untergang

■ Wie die Ostberliner Szene auf die Ausreisewelle reagiert / Regime und Gegner sind sich einig: Die Ausreisenden sind auf die „Propaganda der West-Medien“ hereingefallen / Trauer über den „Massenexodus der DDR-Bürger“ / Angst vor Ausbreitung rechter Ideen

Warum laufen die DDR-Bürger massenweise weg in den Westen? Weil sie auf die „Propaganda der West-Medien“ hereingefallen sind. Das steht ausnahmsweise nicht im 'Neuen Deutschland‘, sondern im neuesten, druckfrischen Flugblatt der Umweltbibliothek.

Die Umweltbibliothek, Treff der Ostberliner Ökos, Anarchos und Szene-Leute, hatte die Ausreisenden schon immer mit spitzen Fingern angefaßt: Wer ausreisen wollte, durfte nur mit Ausnahmegenehmigung bei den dort tagenden Gruppen mitarbeiten. Es sollte verhindert werden, daß die Umweltbibliothek von Ausreisewilligen überlaufen würde, die mit ihrem Engagement nur die Bearbeitung ihrer Ausreiseanträge beschleunigen wollten.

Ablehnung und Mißtrauen war die gängige Reaktion der Ostberliner „UB„-Szene auf die Ausreisewilligen. Das hat sich auch nach den jüngsten Entwicklungen nicht verändert. So wird im neuesten Flugblatt der Umweltbibliothek nicht etwa die Politik des SED-Staats in den Mittelpunkt gerückt, die ja ein realer Fluchtgrund sein könnte. Zunächst wird die „Frontberichterstattung“ der Medien für den „Massenexodus“ verantwortlich gemacht. „Wir nehmen mit Gänsehaut die Statements Geflohener zur Kenntnis, die 'endlich in Freiheit‘ sind“, heißt es in dem Flugblatt. Die West-Medien hätten es verstanden, den DDR-Bürgern „über Jahrzehnte die Überlegenheit des westdeutschen Lebensmodells zu suggerieren“.

Später scheint den Autoren des Flugblatts von der Umweltbibliothek allerdings doch noch eingefallen zu sein, daß es Gründe dafür geben könnte, die DDR zu verlassen: „Nur ganz Blauäugige können noch an eine Zukunft der in der DDR praktizierten Wirtschaft und Politik glauben. Längst werden von den Herrschenden die Standards nur noch durch den Ausverkauf des Landes gehalten: Billiglohnarbeit für kapitalistische Firmen oder zum Dumping auf dem kapitalistischen Weltmarkt, Giftmüllimport im großen Maßstab aus ganz Westeuropa, Export des Kulturerbes von Gaslaternen bis zu antiken Möbeln, Verseuchung des Landes mit umweltzerstörenden Industriezweigen. Diejenigen, die das wissen, verlassen jetzt das sinkende Schiff.“

Die Ostberliner Ökos und Anarchos der Umweltbibliothek meinen, im Moment eine „revolutionäre Situation“ in der DDR erkennen zu können: „Zehntausende von DDR-Bürgern sind bereit, für ihren Traum vom anderen Deutschland ihren sozialen Zusammenhang und ihre Existenz zu verlassen. Wir sind traurig darüber, daß sie diesen Traum nicht im eigenen Land verwirklichen wollen und an den Realitäten des Nachbarstaats BRD ernüchtert werden, die eben gar nichts mit ihrem Traum zu tun haben.“ In der Bundesrepublik, die im Text als „konkurrierender, feindlicher Staat“ bezeichnet wird, werde „Hörigkeit oft besser bezahlt“.

Große Hoffnung auf Reformen scheint von der Umweltbibliothek zur Zeit niemand zu haben: Eher würden sich rechte Ideen in der DDR durchsetzen, denn die Bevölkerung sehne sich nach einem starken Staat, statt sich von ihm zu befreien. „Wir fürchten uns davor, daß infolge der Katastrophenpolitik der Herrschenden in unserem Land in naher Zukunft erneut die Lichter ausgehen, daß entweder die Herrschenden die Zuflucht zum Terror nehmen müssen oder ein rechtes Terrorregime die Nachfolge der SED antritt.“ Neben dieser Horrorvision machen die Autoren noch eine andere Utopie aus: Die SED könnte doch noch zu Reformen bereit sein. Dann, so meint die Umweltbibliothek, werde der Flüchtlingsstrom „über Nacht“ gestoppt.

taz