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Obdach für die Hannemanns

■ Sogar wo einst Möbel standen, findet sich jetzt Platz für Umsiedler / Ex-Möbelhaus im Wedding hat schon die ersten Bewohner

Bis vor gut acht Monaten war Gerhard Ludwig, 57, noch als Kaufmann beim Weddinger Möbelhaus Austel in Lohn und Brot. Und auch nachdem die Raumausstattungsfirma ihren Geschäftsbetrieb aufgab, blieb Ludwig nicht allzu lange arbeitslos. Der agile Mittfünfziger wirkt neuerdings wieder am alten Standort Brunnenstraße 70, sogar wieder zwischen neuen Möbeln. Nur daß seine neuen Besucher nichts mehr kaufen wollen. Ludwig wurde von einer Berliner „Handels- und Vermittlungs-GmbH“ (HaGeBo) nämlich als Leiter eines Heims für Aus- und Übersiedler eingestellt. Bis Ende des Jahres sollen die auf fünf Etagen verteilten ehemaligen „Austel„ -Verkaufsräume in Etappen für die Aufnahme von insgesamt etwa 220 Umsiedler um- und ausgebaut sein. Zwei separate ehemalige Ausstellungshallen an der Brunnenstraße dienen jetzt schon Familien mit Kindern und alleinstehenden Männern als Notunterkunft.

Zusätzliche Notunterkünfte vor allem für die aus Ungarn erwarteten DDR-Übersiedler wurden laut der Sozialverwaltung in den letzten Tagen auch anderswo in der Stadt hergerichtet - mit zusammen 1.800 Plätzen. Dazu kam gestern beispielsweise das Kolpinghaus in der Kreuzberger Methfesselstraße (rund 100 Bettplätze). Immerhin 175 Quartiere offerierte das Weddinger Möbelhaus Berolina, so daß nach Einschätzung der Sprecherin des Sozialsenats, Rita Hermanns, die diversen Turnhallen eventuell gar nicht benötigt werden.

Der Weddinger Heimleiter äußerte sich gestern unterdessen erleichtern darüber, daß er „in einem 16stündigen Arbeitstag“ Möbel für die Umsiedler rechtzeitig zusammenbauen konnte. So habe man schon 20 Leute aus dem Lager Marienfelde aufnehmen können. Ludwig: „Ich möchte nicht, daß die Leute draußen schlafen müssen.“ Der vom Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben bewilligte einträgliche Tagessatz pro Umsiedler war ihm angeblich gänzlich unbekannt.

Dabei wirkte das Interieur der Notunterkunft gar nicht mal unfreundlich. Wie in einer Jugendherberge neueren Zuschnitts warten auf die Gäste zweistöckige funkelnagelneue Kiefernholzbetten. Zwischen den Möbeln und den weißgetünchten Rigipswänden bleibt noch genügend Platz. Neue dicke Veloursteppiche dämpfen - unüblich für solche Unterkünfte - jeden Schritt. Eine über 400 Quadratmeter große Terrasse wollen die HaGeBo-Heimbetreiber für die Kinder öffnen.

„Hier viel besser als in Polen“, findet der 61jährige Rentner Herbert Hannemann, der zunächst mit seinen Familienangehörigen im Marienfelder Lager untergekommen war. Er lebte vorher in einem Ort namens Schneidemühl in der Nähe von Stettin. Das Motiv der Übersiedlung zusammen mit Sohn, Schwiegersohn und zwei Enkelkindern? „Meine Großeltern sind aus Deutschland, was soll ich da in Polen? Hannemann spricht verbittert von dem geringen Verdienst seines 33jährigen Sohnes Waldemar: 40.000 bis 50.000 Zloty. Zuwenig selbst für eine vernünftige Bekleidung. Hannemann: „In Polen kosten zwei Pfund Schinken schon 18.000 Zloty. Da ist Berlin selbst mit den geringen Übergangshilfen vergleichsweise ein Paradies.

thok

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