: Die Anderen: Der Standard/Financial Times/Il Messaggero/Le Monde/Liberation
Die Auslandspresse kommentiert die „Flucht in ein neues Europa“, die Massenausreise der DDR-Flüchtlinge aus Ungarn:
Der Standard
Völkerwanderungen besiegeln Anfang und Ende von Epochen. Die jetzige Völkerwanderung von Ost nach West hat die in Jalta per Federstrich vollzogene Teilung Europas in der Realität nach und nach aufgeweicht. Mit Ungarns Verhalten gegenüber den Tausenden DDR-Flüchtlingen ist Jalta quasi auch offiziell hinfällig. Eine neue, stabile europäische Sicherheitsordnung kann sich nicht auf die bloß formale Garantie der Menschenrechte beschränken. Das freie und reiche Europa muß, auch im eigenen Interesse, weit mehr als bisher mithelfen, den Menschen „drüben“ ein lebenswertes Umfeld zu schaffen - politisch, ökologisch und wirtschaftlich.
Financial Times
Wenn Deutschland jemals wiedervereinigt wird, sollte man sicherlich nicht zulassen, daß dies als Ergebnis eines plötzlichen Zusammenbruchs der DDR passiert. Das Vakuum, das in Mitteleuropa entstehen würde und die daraus resultierende Instabilität würden das Risiko einer sowjetischen Militärintervention mit sich bringen und damit eine ernstzunehmende Bedrohung für den Weltfrieden darstellen. Der Westen, und besonders die Bundesrepublik, sollten vorsichtig sein und eine solche Situation nicht heraufbeschwören.
Il Messaggero
Auch wenn es auf jeden Fall derzeit keine Aussichten auf eine Wiedervereinigung in Deutschland gibt, erinnert die Realität an die Trennung der Deutschen und erneuert das Gefühl der deutschen Einheit und Zusammengehörigkeit... Der Exodus belegt den Anspruch der Menschen auf Menschenrechte und Selbstbestimmung, aber vor allem kennzeichnet sie für Europa die Existenz der deutschen Frage... Wenn es im Osten Bewegung gibt, bewegt sich auch das übrige Europa. Und im Zentrum Europas befindet sich diese geteilte Nation. Wir sind Zeuge des Scheiterns des Kommunismus, aber auch einer Veränderung der Teilung im Nachkriegseuropa, festgeschrieben in Jalta.
Le Monde
Die „deutsche Frage“ ist auf die Tagesordnung zurückgekehrt... Die Deutschen werden sicher weniger vom Osten angezogen, als man allgemeinhin annimmt. Sie fragen sich vielmehr, wie sie der Anziehungskraft begegnen sollen, die der Westen auf Länder ausübt, die das Pech hatten, sich im sowjetischen Einflußbereich wiederzufinden, ohne es gewollt noch verdient zu haben... Aus diesem Grund erscheint die Definition einer gemeinsamen Ostpolitik dringender denn je. Während die französische Diplomatie Bonn vorwirft, nichts davon hören zu wollen, behaupten die Deutschen, ihre Vorschläge für eine Zusammenarbeit auf diesem Gebiet seien niemals beantwortet worden. Ist es die Frage, wem der Vortritt gebührt, die Franzosen und Deutsche daran hindert, sich gemeinsam an die Arbeit zu machen? Oder muß man vermuten, daß der alte Argwohn trotz der Freundschaftsbezeugungen fortbesteht? Die Deutschen mit dieser Herausforderung allein zu lassen, würde jedenfalls die besten Bedingungen dafür schaffen, daß diese Befürchtungen eine Rechtfertigung erhielten.
Liberation
Schon seit Monaten erkennt man allmählich im Westen, daß man die Landkarte Europas bald abändern muß, nachdem die Bürden der Nachkriegszeiten allmählich schwinden. Innerhalb weniger Tage hat Polen eine Regierung bekommen, in der die Kommunisten in der Minderheit sind, und Ungarn hat der DDR den Rücken gekehrt. Das ist ein schwerer Schlag für die Weltordnung von Jalta und die Logik der Politik der Blöcke, auch wenn zur Zeit die militärischen Strukturen des Ostens noch intakt sind. Wenn die Karte Europas neu gezeichnet wird, stellt sich zwangsläufig wieder die Deutschlandfrage. Das Problem der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wird wieder ganz akut, selbst wenn sich die Flüchtlinge von Passau mehr nach Freiheit und Wohlstand sehnen als nach einem Wiedersehen mit den anderen Deutschen.
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