Gorbatschow kämpft um die Einheit

■ Vor dem Nationalitätenplenum des ZK: Hoffnung und Ruhe in den baltischen Teilrepubliken, andauernde Spannungen und hektische Aktivitäten in Aserbaidschan und Armenien / 'Prawda‘ greift ukrainische Nationalisten an

Moskau (afp/dpa) - Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow ist mit den Partei-, Parlaments- und Regierungschefs der drei baltischen Sowjetrepubliken Litauen, Lettland und Estland zu Gesprächen über die Nationalitätenfrage getroffen. Das Treffen fand bereits am Mittwoch statt, wurde aber erst jetzt vom Sprecher des Außenministeriums Gerassimow bestätigt. Am 19. September soll die lang verschobene Plenumssitzung des Zentralkomitees der KPdSU zur Nationalitätenfrage beginnen.

Gerassimow sagte dazu, die sowjetische Führung werde darauf achten, den Republiken „eine reale Souveränität“ zu garantieren. Gleichzeitig wende sich die KPdSU gegen eine Spaltung unter nationalem Vorzeichen.

Der estnische Parteichef Vaino Valyas hatte am Donnerstag im örtlichen Fernsehen berichtet, Gorbatschow habe den Baltenrepubliken die Unterstützung des Politbüros bei ihrem Bestreben nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit von Moskau zugesagt. Einzelheiten über das Gespräch gab Valyas nicht bekannt. Ein Mitarbeiter des litauischen Parteichefs Algirdas Brazauskas sagte jedoch, er könne nicht bestätigen, daß Gorbatschow die wirtschaftliche Unabhängigkeit der drei Republiken unterstützt habe.

Der Oberste Sowjet von Aserbaidschan trat am Freitag in der Hauptstadt Baku zu einer Sondersitzung zusammen, um einen Gesetzentwurf über die Souveränität der Volksrepublik und ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit zu beraten. Die aserbaidschanische Volksfront hatte die Sondersitzung durch einen Generalstreik in der vergangenen Woche erzwungen. Die Nationalisten verlangen insbesondere, daß das Parlament die aserbaidschanische Souveränität über die umstrittene Bergregion Nagorny-(Berg-) Karabach betont.

Die in Aserbaidschan liegende, aber mehrheitlich von Armeniern bewohnte autonome Region wurde unter Stalin Aserbaidschan zugeordnet. Wegen der anhaltenden Unruhen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern wird die Enklave seit Januar dieses Jahres direkt von Moskau verwaltet. Die 15 Führungsmitglieder der Volksfront haben eigenen Angaben zufolge durchgesetzt, daß sie an der Parlamentssitzung teilnehmen dürfen, die zudem erstmals im örtlichen Fernsehen direkt übertragen wird. Mit Entscheidungen wird erst für heute gerechnet.

Berichte über eine Blockade Armeniens durch Aserbaidschan bestritt der Sprecher des Bakuer Außenministeriums, Ismail Agajew. Demgegenüber sagte ein Sprecher des armenischen Außenministeriums in Eriwan, die Blockade Armeniens „von der Seite Aserbaidschans“ halte an. Mittlerweile seien Ölprodukte und Baumaterialien Mangelware. Viele Bauunternehmen im nordarmenischen Erdbebengebiet hätten ihre Arbeiten wegen Materialmangels einstellen müssen. Heute wird der Oberste Sowjet der Republik zu einer Sitzung zusammenkommen.

In ungewöhnlich scharfer Form hat das sowjetische Parteiorgan 'Prawda‘ am Freitag die ukrainische Volksfront „Ruch“ (ukrainisch: Bewegung) kritisiert. „Die Ruch-Führer haben den Pluralismus verkündet, aber auf ihrer Gründungsversammlung waren die Reden überwiegend nach einem Muster gestrickt: 'Gegen die KPdSU und gegen den Sozialismus'“, schrieb die 'Prawda‘. In „äußerster Aufregung, angeheizt von Reden gegen die UdSSR und den Sozialismus“, sei das nationalistische Programm diskutiert worden. Auch Parteiführer mehrerer ukrainischer Gebiete seien „mit Schmutz beworfen“ und sogar Lenin sei Chauvinismus vorgeworfen worden. Die Volksfront engagiert sich vor allem gegen ein Wahlgesetz der Republik, das als nicht demokratisch empfunden wird.