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SCHWERE BÜRDE

■ Mauricio Kagel erteilte den Berlinern Lektionen

Sonntagmorgen im Renaissance-Theater. Der Komponist Mauricio Kagel beschreibt ein Foto von 1960. Er und Stockhausen stehen mit ihren Koffern voller Noten und Tonbänder vorm Flughafen Tempelhof, „zwei übermüdete, entnervte Komponisten“, die „Kultur als schwere Bürde“ mit sich herumschleppend. Die Armen. Berlin dagegen: die Stadt der Komparsen. Bei der ersten Fahrt Richtung Akademie der Künste fällt ihm auf: der großzügige Umgang mit unbebautem Raum, die Reklameschrift auf den Trümmern, die Breite der Flure in der Akademie, einen Meter mehr als normal, passend zur Breite der Berliner Alleen. Die „eigenartige Liturgie“, mit der die ersten Aufführungen elektronischer Musik, damals war es Transition 1, vollzogen wurden. Das Publikum bei der Uraufführung von Match 1965, das lachte, ohne sich zu amüsieren. Lauter kleine, genaue Beobachtungen, das anfängliche Selbstmitleid hat ihm den Blick offenbar nicht verstellt: Kagel war Filmkritiker in Argentinien, bevor er hauptberuflich komponierte.

Aber dann kommt er wieder auf seine Lieblingsfeinde zu sprechen: die Kritiker. Genüßlich zitiert er den Standardsatz des Feuilletons zur musikalischen Avantgarde: „Ist das noch Musik?“ und hat die Lacher damit auf seiner Seite. Noch genüßlicher knöpft er sich den Chefkritiker vor (Hans Heinz Stuckenschmidt zu Match: „reiner Studentenulk“, „Minimum an geistiger Arbeit“) und zerpfückt Klaus Geitel von der 'Morgenpost‘ (saß sicher im Publikum). Und er hat Mitleid mit den Herren der Branche. Immer müssen sie eine Meinung haben, müssen richten, statt zu berichten und das bei mangelnder Partiturkenntnis und vermutlich mißlungener eigener Künstlerkarriere.

Diesmal macht der Haß ihn blind. Dem Verdikt, eine Komposition sei „keine Musik mehr“, zu begegnen mit dem Hinweis auf ihren Erfolg, verrät die Abhängigkeit von genau dem Betrieb, den Kagel (zu Recht) so verachtet. Und dem er in seinen Werken (Ludwig van, Staatstheater, Aus Deutschland) oft genug die Leviten gelesen hat, nicht oberlehrerhaft, sondern mit Ironie in der Stimme.

Wie peinlich, wenn er die Trennung von Information und Meinung auf den Kulturseiten fordert: als gäbe es neutrale Ohren, als sei die Tagesschau unparteiisch. Wie peinlich, wenn er einerseits über Götz Friedrich herzieht, der Kagels Liederoper Aus Deutschland vom Spielplan nahm, kaum daß er Intendant geworden war, und andererseits die Festwochen lobt, die seit ihrer Gründung die Neue Musik bestenfalls als leidige Pflicht erledigen.

Kagel hatte seinem Vortrag ein Motto vorangestellt. „Angeklagter: Schwören sie, die Wahrheit zu sagen, und nichts als die Wahrheit?“ Justizbeamter: „Ja.“ Natürlich, die einen verbrechen Werke, die anderen fällen Urteile. Aber zu Schaden kommt niemand, und Strafen werden nicht verhängt. Kunst ist harmlos. Das ist das Gefährliche daran.

chp

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