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Zwei vermißte Problemsichten

■ Betr.: "Das Ende einer Ehe", "Aufrecht in den Untergang", taz vom 12.9.89

betr.: „Das Ende einer Ehe“ (Kommentar Hartung), „Aufrecht in den Untergang“,

taz vom 12.9.89

In Berichterstattung und Debatte über die haufenweise Auswanderung aus der DDR vermisse ich unter anderem zwei Problemsichten, die für das politische Umgehen damit aber entscheidend sind: 1. die Kritik der BRD-Politik und 2. eine politische Einschätzung der inneren DDR-Opposition: (...)

1. Ohne den bundesdeutschen Revanchismus und seine jahrelange Abwerbepropaganda (durchaus nicht aus schlicht humanitären Gründen) wäre dieser Umsiedlungsschwung nicht, was er gerade ist: weder so umfangreich noch in diesem Maße ideologisch aufgerüstet. Und an die Ex-DDRlerInnen, die die „Heim-ins-Reich„-Debatte mit dem vermeintlich politischen Argument kritisieren, die Schreiberlinge wüßten nicht, wie hart das DDR-Leben sei: mit der von mir getroffenen Feststellung wird an den Verhältnissen in der DDR nichts geschönt; denn zu denen ist damit noch gar nichts gesagt.

Auch hier sind die ÜbersiedlerInnen vorwiegend Objekt von Politik und sind, unabhängig von ihrer Selbsteinschätzung oder Motivation ihrer Entscheidung, Wasser auf den Mühlen der KommunistInnenfresserInnen, NationalistInnen und GrenznachbesserInnen. Die Antwort auf die BRD-Politik muß unter anderem die Forderung sein, die bestehenden Grenzen - zu DDR wie Polen - anzuerkennen.

2. Otto Reinhold (taz vom 28.8.) hat ganz recht: die DDR muß sich durch eine nicht kapitalistische Gesellschaftskonzeption von der BRD unterscheiden. Die SED -Konzeption hat ihre guten Teile. Aber gewisse Elemente waren nie vorgesehen, ohne die eine sozialistische Gesellschaft nicht emanzipatorisch sein kann; unter anderem politische Öffentlichkeit, deren Fehlen heute Hauptursache für die bröckelnde Integrationskraft des Honecker-Modell ist. Hartungs Feststellung, daß die SED keine innergesellschaftlichen Debatten aufgreift, sollte aber nicht zum Kurzschluß führen, in dem Feld bewege sich nichts. Die Sicht „Staat tut nix, also passiert nix“ beruht auf einer veralteten Sichtweise de realsozialistischen Gesellschaften. In der DDR sind InitiatorInnen gesellschaftlicher Selbstorganisation - ausgeprägter als die Kirche - die Basisgruppen und Polit-AGs. Sie müssen die Flucht nach vorn starten in Form der Herstellung der fehlenden öffentlichen Diskussion. (...)

Die Ausreisenden nämlich sind - entgegen Hartung und anderen - gerade nicht „die“ gesellschaftliche Bewegung der DDR (auch und gerade F.Klier nicht). Sicher erzeugen sie Handlungsdruck; sie beeinflussen aber den Inhalt der staatlichen Reaktionen nicht. Gerade das macht aber gesellschaftliche Bewegung aus: daß sie am Was und Wie der Entwicklung - hier: der DDR - arbeitet.

Anne Hampele, Berlin 61

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