: Für eine vereinigte Linke in der DDR
Appell von Vertretern verschiedener sozialistischer Tendenzen in der DDR, verabschiedet nach einem Treffen Anfang September in Böhlen ■ D O K U M E N T A T I O N
Angesichts der anhaltenden wirtschaftlichen Stagnation und der sich verschärfenden politischen Krise in unserem Land wenden wir uns mit diesem Aufruf an alle politischen Kräfte in der DDR, die für einen demokratischen und freiheitlichen Sozialismus eintreten. Ein linkes, alternatives Konzept für eine Wende wird immer dringlicher!
Wir sind der Auffassung, daß insbesondere die DDR vor einer historischen Chance radikaler Erneuerung des sozialistischen Gesellschaftskonzepts steht. Wird sie warten, so hat das Folgen, die möglicherweise nicht nur in unserem Land über lange Zeit hinweg die Aussicht auf ein sozial gerechtes und die freie Entfaltung jedes Gesellschaftsmitglieds garantierendes Gemeinwesen suspendieren.
Die äußeren Bedingungen für eine radikale Erneuerung sind kompliziert genug: Im modernisierten internationalen Kapitalismus begünstigt die Enttäuschung der Werktätigen über die Wirkungslosigkeit des sozialdemokratischen Wohlfahrtstaatlichkeitsmodells die weiter anhaltende neokonservative Wende nach rechts. Die Gewerkschaften stehen mit dem Rücken zur Wand. Der Rückgang des Einflusses westeuropäischer kommunistischer Parteien und der Prozeß ihrer galoppierenden Sozialdemokratisierung verdienen das Prädikat dramatisch. Der Internationalismus kommunistischer Massenparteien hat de facto aufgehört zu existieren und kann sich hinter dem dagegen noch funktionierenden, aber nichtsdestoweniger kläglichen sozialdemokratischen Internationalismus verstecken. Die Faszination des ermutigenden Aufbruchs der KPdSU aus dem Getto von Stagnation, Stalinismus und Machtanmaßung weicht mehr und mehr der Sorge, die nun anwachsenden zentrifugalen Kräfte könnten noch mehr zerreißen als die Blockaden gegen eine wirklich sozialistische Entwicklung. Der wirtschaftliche Umbruch in den Reformländern greift nicht oder bedient sich zweifelhafter Methoden. Die Defizite einer radikalen Erneuerung theoretischen Denkens auf marxistischer Grundlage sind angesichts der heutigen Herausforderungen katastrophal.
Und doch ist die Chance da: ein souveräner Umschwung in Richtung Sozialismus wäre heute nicht mehr militärischer Einmischung seitens „wohlmeinender Bruderländer“ ausgesetzt. Aufgrund der desolaten Wirtschaftslage ist die politische Einmischung des Westens über den Kanal der „Wirtschaftskooperation“ viel größer.
Die entscheidende Frage bleibt die soziale Basis, die politische Reife und die seriöse Programmatik sozialistisch votierender Kräfte im Lande selbst. Für uns heißt dies unter den in der DDR herrschenden Bedingungen, dieses Fundament wiederzugewinnen. Und hier sind bei uns die Voraussetzungen zweifellos günstiger als in anderen „realsozialistischen“ Ländern - ungeachtet der weiter bestehenden politischen Unterdrückung auch und erst recht linker Kräfte in der DDR. Die Linken in unserem Land können sich kein Sektierertum leisten. Sie müssen die treibende Kraft einer „Koalition der Vernunft“ sein, welche sich auf die Vielfalt aller sich zum Sozialismus bekennenden politischen und sozialen Kräfte in der DDR stützt, aber darüber hinaus allen sozialen und politischen Gruppierungen unter dieser Voraussetzung des Sozialismus eine Perspektive bieten kann. Eine vereinigte Linke muß in diesem Sinn in freier, gleichberechtigter, offener und öffentlicher Diskussion in kürzester Zeit ein konzeptionelles Programm für die politische und wirtschaftliche Umgestaltung erarbeiten, welches den Charakter hat, sich bei seiner Realisierung auf eine breite gesellschaftliche Akzeptanz stützen zu können. Niemand, der diesen Prozeß der Erneuerung mitgestalten will, auch kein Mitglied der SED, darf aus diesem Prozeß ausgegrenzt werden. Andererseits zeigen gerade wieder jüngste Erfahrungen, wohin prinzipienloser gesellschaftskonzeptioneller Relativismus führen kann. Wir wenden uns entschieden dagegen, daß politbürokratische Unterdrückung durch kapitalistische Ausbeutung „ersetzt“ wird. Die Linken müssen sich auf der Basis
-des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln als die vorherrschende und perspektivische Grundlage sozialistischer Vergesellschaftung
-des Ausbaus der Selbstbestimmung der Produzenten in Verwirklichung realer Vergesellschaftung der gesamten ökonomischen Tätigkeit
-der konsequenten Verwirklichung des Prinzips der sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit für alle Gesellschaftsmitglieder
-der politischen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, konsequenten Verwirklichung der ungeteilten Menschenrechte und freien Entfaltung der Individualität jedes Gesellschaftsmitglieds
-des ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft
treffen. Die Zeit ist überreif für eine offene Diskussion der damit verbundenen Fragen. Der Prozeß des Dialogs einer sich vereinigenden Linken auf solcher Grundlage kann und sollte auch unter den heute noch geltenden Bedingungen der beruflichen Diskriminierung und der Ausübung politischen Drucks auf politisch nicht angepaßtes Denken trotzdem öffentlich erfolgen. Dem organisatorischen Zusammenschluß einer vereinigten Linken hat der beschriebene Prozeß des Dialogs vorauszugehen.
Mindestanforderungen für die Gestaltung einer freien sozialistischen Gesellschaft in der DDR. Vorschlag für einen Minimalkonsens einer breiten unabhängigen sozialistischen Opposition
1. Verwirklichung der sozialistischen Demokratie als Ausdruck der Volkssouveränität durch die Volksmacht, das heißt der Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des werktätigen Volkes.
Dem dient die Realisierung folgender Grundsätze:
a) Sicherung individueller und kollektiver Freiheitsrecht entsprechend der UN-Menschenrechtscharta (einschließlich ungehinderter Reisefreiheit und Streikrecht)
b) Rechtsstaatlichkeit (einschließlich individueller und kollektiver Einklagbarkeit der Freiheitsrechte sowie gesetzliche Verantwortlichkeit der Behörden und ihrer Funktionstärger gegenüber den Bürgern)
c) Funktionelle Gewaltenteilung auf der Grundlage der Volkssouveränität (einschließlich Verfassungskontrolle und Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie Wahrnehmung der Volkssouveränität (einschließlich Verfassungskontrolle und Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie Wahrnehmung der Volkssouveränität gegenüber den rechtsprechenden und vollziehenden Apparaten)
d) Starke basisdemokratische Verankerung der staatlichen Gewalt mittels Volksabstimmungen sowie politischer Rechte für Betriebsräte und Wohnbezirksräte
e) Selbstverwaltung aller territorialen politischen Gemeinschaften (Gemeinden, Kreise usw.) einschließlich der Bildung ihrer Rechtspflege- und Polizeiorgane durch sie selbst bei ausschließlich gerichtlicher Kontrolle ihrer von staatlicher Aufsicht freien Tätigkeit
f) Bundesstaatlichkeit auf der Grundlage der Länderstrukturen von 1949 sowie des Landes Berlin (DDR) und Bildung einer Länderkammer nach dem Senatsprinzip aus den Volksvertretungen der Länder
g) Politische und Meinungspluralität einschließlich Parteienpluralität auf der Grundlage freiheitlich -sozialistischen Verfassungsrechts
h) Verhältniswahlrecht
i) Recht von Gesetzesinitiativen und geregelte Vetorechte für demokratische Massenorganisationen (Gewerkschaften usw.)
j) Förderung von vielfältigen Bürgerinitiativen und Sicherung ihrer breiten Einbeziehung in die staatlichen Entscheidungsprozesse
k) Umbildung der Massenmedien aus Organen der monopolisierten Regierungsgewalt in Medien der Öffentlichkeit durch Anwendung des öffentlichen Rechts unter Sicherung des Medienzugangs für jeden Bürger
l) Informationsfreiheit in allen öffentlichen Angelegenheiten und Rechtsschutz gegen den „gläsernben Menschen“.
(Text in Auszügen)
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