: Trümmerkids und Gruppenstunde
■ Der Landesjugendring wird 40 Jahre alt / Antikommunismus und FDJ-Gegnerschaft schweißten junge Katholiken und Falken zusammen / Trotzdem waren die Jugendverbände die ersten, die schon in den fünfziger Jahren Ernst mit der Entspannungspolitik machten
Berlin in den letzten Apriltagen des Jahres 1945: Straße um Straße, Häuserblock um Häuserblock kämpfen sich die sowjetischen Truppen in das Zentrum eines Trümmerfeldes vor, das Berlin heißt. Während das letzte Aufgebot des untergehenden Nazi-Reiches den sinnlosen Durchhalteparolen ihrer eingebunkerten Führer gehorcht und die Summe des Schreckens bis zur letzten Stunde vermehrt, schaffen die Menschen in den befreiten Außenbezirken der Stadt bereits die Trümmer beseite, versuchen, eine öffentliche Verwaltung aufzubauen, um den Übriggebliebenen ein Überleben in der Kriegswüste zu ermöglichen.
In diesen ersten Tagen und Wochen der Nachkriegszeit riefen erwachsene und jugendliche Nazigegner die Berliner Jugend auf, sich an den Aufräumungsarbeiten zu beteiligen. Es bildeten sich Jugendkomitees und Jugendausschüsse. Mit Spiel und Sport, ungezwungenem Gemeinschaftsleben und Musik wollten sie ein bißchen Licht in den grauen und entbehrungsreichen Alltag der Jugendlichen bringen. Die Aktivisten ließen sich von einem antifaschistischen Hauptmotiv leiten: Sie versuchten, die Jugendlichen, die in den faschistischen Zwangsorganisationen der Schule und der HJ aufgewachsen waren, in einem humanistischen, demokratischen, bisweilen auch sozialistischen Sinn „umzuerziehen“.
Die Kommunalverwaltungen begannen rasch, die Arbeit der bereits bestehenden Jugendausschüsse zu koordinieren, neue zu gründen - und zu kontrollieren. Aus dieser eigenartigen Zwitterstellung der Jugendausschüsse - einerseits Jugendbehörde, andererseits eine Art Jugendorganisation auf antifaschistisch-demokratischer Grundlage - entwickelte sich die behördliche Jugendarbeit.
Gleichzeitig begannen ehemalige Mitglieder von Jugendverbänden aus der Weimarer Zeit, assistiert von Jüngeren, Jugendgruppen nach traditionellem Muster aufzubauen. Sozialdemokraten gründeten die sozialistische Jugendbewegung - Die Falken. Die Pfadfinder fanden sich unter einem neuen Namen - Bund Deutscher Jugend (BDJ) zusammen. Auch die Kirche verstärkte ihre Jugendarbeit. Dazu kam noch der Demokratische Jugendverband (DJV), dessen Mitglieder sich nicht auf eine weltanschauliche Richtung festlegen wollten. All diese Jugendverbände bekannten sich aber zur westlichen Demokratie und zu politischem Pluralismus, - für sie eine unverzichtbare Vorraussetzung für eine demokratische Gesellschaft.
Konflikte mit der FDJ
Die Kommunisten vertraten ein ganz anderes Konzept von Jugendarbeit. Die SED propagierte eine einheitliche Jugendorganisation - die Freie Deutsche Jugend - in der alle politischen und weltanschaulichen Strömungen auf antifaschistisch-demokratischer Grundlage zusammenwirken sollten. Anfänglich arbeiteten in der FDJ neben den Kommunisten auch sozialdemokratische und christliche Jugendfunktionäre und Gruppenleiter mit. Als sich jedoch nach und nach immer deutlicher abzeichnete, daß die Kommunisten in der FDJ die Fäden straff in der Hand hielten, zogen sich die anderen desillusioniert wieder zurück. Die FDJ entwickelte sich zur „treuen Kampfreserve“ der SED und zur loyalen Staatsjugend der DDR.
Die unterschiedlichen Konzepte und die politischen Differenzen hinderten die vier im Jahre 1947 von den Alliierten offiziell zugelassenen Jugendverbände (FDJ, Falken, DJV und BDJ) zunächst nicht daran, zusammenzuarbeiten. Im November 1947 schlossen sie sich deshalb zum Berliner Jugendring zusammen. Als der Ost-West -Konflikt mit der Blockade West-Berlins und der Spaltung der Stadtverwaltung eskalierte, scheiterte das Experiment. Die drei westlich orientierten Jugendverbände waren nicht mehr bereit, mit der Freien Deutschen Jugend zusammenzuarbeiten und verließen das Gremium.
Kurz darauf, im September 1949, gründeten BDJ, DJV und Falken gemeinsam mit der katholischen, der evangelischen und der Gewerkschaftsjugend den Landesjugendring Berlin. In den folgenden Jahren stießen die Naturfreundejugend, die Jugendorganisation der Angestelltengewerkschaft, die Schreberjugend, das Jugendwerk der evangelischen Freikirchen und die Sportjugend zu diesem Lobbyverband dazu.
Bei nahezu allen jugendpolitischen Entscheidungen der fünfziger Jahre spielte der Landesjugendring eine bedeutende Rolle. So wirkte er beispielsweise bei der Beratung von Jugendgesetzen, wie etwa dem Berufsausbildungsgesetz mit; aus den Jugendverbänden kamen die Fachkräfte für die Jugendämter, Jugendverbände organisierten praktische Hilfen für arbeits- und berufslose Jugendliche.
Vom kalten Krieg
zur Entspannungspolitik
In den Grabenkämpfen des kalten Krieges waren die Landesjugendringmitglieder auf der einen und die FDJ auf der anderen Seite mehr als nur Statisten im „Frontstadt -Theater“. Die gemeinsame antikommunistische Grundhaltung erleichterte es den eigentlich sehr unterschiedlich ausgerichteten Verbänden wie Falken und katholische Jugend, im Jugendring zusammenzuarbeiten. Besonders die Jugendverbände mit politischem Anspruch, allen voran die Falken, taten sich hervor, wenn es galt, gegen den Machtanspruch der stalinistischen SED und FDJ zu Felde zu ziehen. Allein die evangelische Jugend beteiligte sich kaum an den öffentlichen Gefechten mit der FDJ, da sie Repressalien gegen die evangelische Jugendarbeit in der DDR befürchtete.
Erst als sich Mitte der fünfziger Jahre in den osteuropäischen Staaten eine „Tauwetterperiode“ der Entstalinisierung und Liberalisierung abzeichnete, eröffneten sich Möglichkeiten, den kalten Krieg schrittweise zu überwinden. Die Westberliner Falken, für die sich in dieser Zeit ihre ersten Kontakte nach Jugoslawien und Polen anbahnten, begannen, Gedenkfahrten nach Auschwitz, Lidice und Theresienstadt zu organisieren. Sie wurden deswegen von der Presse und von anderen Jugendverbänden heftig kritisiert. Auch die Remilitarisierung Westdeutschlands und die geplante Atombewaffnung sorgte in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre für Konflikte zwischen den eher linkssozialdemokratisch orientierten Jugendverbänden und denen, die sich der CDU verbunden fühlten.
Einigkeit demonstrierten die Mitgliederverbände jedoch gegen Neonazismus und Antisemitismus. Mit einer Demonstration von mehreren zehntausenden Jugendlichen reagierte der Landesjugendring Berlin auf eine Welle von Hakenkreuzschmierereien und die Verwüstung jüdischer Friedhöfe, die um die Jahreswende 1959/60 deutlich werden ließ, das die faschistische Vergangenheit im Jahrzehnt des „Wirtschaftswunders“ verdrängt worden war.
Die Jugendverbände waren nach dem Krieg angetreten, um nach zwölf Jahren Nazidrill demokratische Erziehung zu entwickeln. Freiwillig einer selbstgewählten Gruppe anzugehören, der man jederzeit wieder fernbleiben konnte, in der nicht Drill sondern Diskussion, nicht Zwang, sondern Überzeugung zählte - das war für viele Jugendlichen eine völlig neue Erfahrung. Wo die Väter im Krieg blieben und die Mütter sich abrackerten, um die Familie durchzubringen, wo in der Schule alte Nazilehrer über die Vergangenheit schwiegen und die jüngeren überfordert waren, bildeten die Jugendverbände eine wichtige Instanz für junge Menschen, mit sich selbst und der Gesellschaft zurechtzukommen.
In den ersten Nachkriegsjahren strömten Jugendliche in Scharen zu den Gruppenstunden, Ferienfahrten und Zeltlager der Jugendverbände. In einer Zeit, in der die meisten hungerten, bedeuteten die zusätzlichen Kalorien, die sie dort bekamen, eine ganze Menge. Die Gruppenabende und Freizeitfahrten sorgten für Abwechslung vom Alltagsleben, in dem noch keine allgegenwärtige Unterhaltungsindustrie Zerstreuung am laufenden Band produzierte. Konkurrenzlos blieben über Jahre auch die Zeltlager am Rande der Stadt, in denen allsommerlich zehntausende Kinder und Jugendliche einen Teil ihrer Ferien verbrachten: wer konnte sich schon Individualtourismus leisten?
Erst als in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre der zunehmende Wohlstand und die Angebote der Kulturindustrie individuelle Freizeitgestaltung außerhalb der Jugendverbände ermöglichten, ließ der Run auf die Jugendverbände nach. Die meisten Jugendlichen zogen die heißen Rhythmen des Rock'n Roll den Volkstanzveranstaltungen vor. Nur langsam und mühselig stellten sich die Verbände auf die neue Situation ein, modernisierten ihre Jugendarbeit, schnitten so manchen alten Zopf aus dem Erbe der Weimarer Jugendbewegung ab und öffneten sich stärker nach außen. Seitdem aber führt noch jede Generation von Jugendfunktionären eine Diskussion um die „Krise der Jugendarbeit“.
Roland Gröschel
Roland Gröschel ist Co-Autor des im Dezember bei Elefanten -Press erscheinenden Buchs: Trümmerkids und Gruppenstunde, Jugend und Jugendverbandsarbeit in Berlin 1945 bis 1961.
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