: Von Gehirntieren und Wortplattlern
■ Neues aus dem Nachlaß von Arno Schmidt
Und nun, wo es zu spät ist; nun als es dem unterm Hügel liegenden nichts mehr nützt: nun kommt das widerlichste aller Mischgetränke: das posthumen Lobes!“
Der das über den Dichter S.C.Pape sagte, wußte nur zu gut, wovon er sprach. Jahrzehntelang haben sich Verlage vor seinem giftstacheligen Stil geziert - jetzt zieren sie sich mit ihm. Bis heute dauert der Streit um die Verlagsrechte zwischen Fischer und Haffmans, der schon vor seinem Tod begann: Der Schriftsteller Arno Schmidt starb vor zehn Jahren, am 3.Juli 1979; am 18.Januar dieses Jahres wäre er 75 Jahre alt geworden. - Im Haffmans Verlag erschien im vergangenen Herbst als Zweite Zürcher Kassette Schmidts essayistisches Werk zur deutschen Literatur. In diesem Frühjahr folgte - als Erstveröffentlichung aus dem Nachlaß - Arno Schmidts Wundertüte, eine Sammlung fiktiver Briefe.
Unbestritten ist, daß Arno Schmidt im Blumengarten der Nachkriegsliteratur als dornige Distel steht. Seine unverhohlene Bissigkeit schlägt sich in den Essays ebenso nieder, wie seine Experimentierfreudigkeit. Die Essays, sämtlichst für den Rundfunk geschrieben, bieten keine glatten Läster- und Lobeshymnen, sondern sind in kontroverser Gesprächsform für mindestens zwei Personen verfaßt. Da streiten sich dann jeweils ein allwissend -belehrender Alter und ein bieder-empörter Junger über Bedeutung und Qualität der Werke von Klopstock oder Wieland, Moritz oder Tieck, Fouque oder Stifter. 26 Schriftsteller erscheinen in dieser Weise auf dem Trapez, vom Barockschreiber Brockes bis zu Alfred Andersch: ein privater und unorthodoxer Querschnitt durch die deutsche Literaturgeschichte. Und obwohl es sich durchweg um Brotarbeiten handelt, verfolgt Schmidt ein amüsant -ketzerisches Ziel: „B: ...wird man Ihnen nicht eine 'Sucht, das Erhabene in den Staub zu ziehen‘ unterstellen? - A: Das müßte schon ein sehr Böswilliger sein, der verschwiege, daß ich mich notorisch lieber mit 'Rettungen‘ befasse freilich hat ab&zu&Hand in Hand damit, ein Kritsieren von fälschlich Überbewertetem zu gehen.“ Keine Frage, daß Goethe, die „Klassiker“ überhaupt, dabei ihr Fett abkriegen. Klassiker sind für Schmidt Leute, die das Chaos dadurch zu beseitigen versuchen, indem sie es einfach „Kosmos“ nennen. Da hält es der „Wortmetz“ doch lieber mit den Romantikern, und zwar den echten: die nämlich als „verwegendste Realisten“ die unwegsam-unverständliche Wirklichkeit getreu abbilden. Dazu gehören für ihn nur Ludwig Tieck, E.T.A Hoffmann, Clemens Brentano und Friedrich de la Motte Fouque. Nicht also Heine, nicht Arnim und schon gar nicht Eichendorff.
Das Schönste an Schmidts Rettungs- und Vernichtungsfeldzügen ist, daß er sie seinem entrüstet -verdutzten bildungsbeflissenen Gesprächspartner haarklein und anekdotisch erläutert. Stifter beispielsweise „war so kleinlich und hartnäckig, daß er zu Zeiten imstande war, polizeiliche Hilfe gegen eine grobe Magd anzufordern. - A: ...'Es drohen von dieser Klasse ohnehin künfig Übel für die Gesellschaft!‘ - B: Achsiehsa! - Und demgegenüber mußte natürlich die 'Konstanz der Arten‘ zum Dogma erhoben werden...“ Daß der Regalhüter deutscher Bürgerhäuser stilistische Banalitäten unter sich ließ, erträgt auch Schmidt nicht: „Grundsätzlich wählt Stifter von zwei möglichen Formulierungen die längere. Er erläßt uns keine Dative; keine Elefantiasis seiner schwerfällig watschelnden 'derselbe, dieselbe, dasselbe‘. Das barbarische Gestammel seiner gemästeten Nebensätze! Die manirierte Einfältigkeit, die, um eine entscheidende Spur zu oft, an selbstauferlegten Schwachsinn grenzt!“ Und so geht es munter weiter: Mit eben dieser frisch-unhöflichen Ehrlichkeit geht er auch dem „Kryptoprosaisten“ Klopstock an die Feder, dem er nach Strich und Faden seine Unfähigkeit zum Sichten nachweist.
Schmidt zeichnet biographische Graffittis, die bizarreste kulturgeschichtliche Zusammenhänge aufdecken: Da hat er aus Stadt- und Kirchenarchiven herausgekramt, daß der Dichter Leopold Schefer als Zeitverwalter des Schlosses von Pückler sich mit seinem Kollegen Fouque herumzankte, der Kriegskontributionen eintreiben mußte! Seine aberwitzige Belesenheit - schon als Oberschüler hatte Arno (der mit 3 lesen lernte!) deshalb Spitznamen wie „Amos/Allah/Apoll“ macht ihn allerdings manchmal zum nervtötenden Oberlehrer. Über August Heinrich Julius Lafontaine heißt es: „B: ...er mußte als Hauslehrer gehen? - A: Sie haben gut aufgepaßt. 1780 wird er 'Hofmeister‘, wie man sagte, von 2 Söhnen & 2 Töchtern; beim Amtmann Brinkmann, in BartenslebenIngersleben...“ Arno Schmidt ist der Besserwisser in jeder Hinsicht; und vernarrt in Kleinstdetails und kataloghafte Vollständigkeit. Für seinen detektivischen Vorsatz aber, die „zu Unrecht Vergessenen“ (Schon mal was von Hackländer gehört?, d.S.) zu retten, eine äußerst nützliche Marotte: Nur so ist schließlich völlig klar, daß Lafontaine eine viel tiefere Menschenkenntnis besaß als seine prominenten Zeitgenossen Schiller-Goethe, und die Denkweisen seiner Generation um Längen besser demonstriert.
Schmidt benutzt durchaus Hierarchien. Und er hat sehr einleuchtende Kriterien. Eins davon ist, wie ein Schriftsteller literarische Formen einsetzt, ob er sie weiterentwickelt. Der Favorit seiner essayistischen Hörspiele ist dementsprechend Christoph Martin Wieland. Er hat sich als erster systematisch-theoretische Gedanken über Prosaformen gemacht, den einzig wirklichen Briefroman geschrieben. Und: Wieland besaß auch das selten sensible Gespür dafür, wie am besten gesellschaftliche Beziehungen und Magnetfelder literatisch zu vermitteln sind: im Prosa -Gespräch. - Hierher leitet also Schmidt die Form für seine Essays ab; denn an anderer Stelle betont er direkt, daß eine kleine Gruppe scharf differenzierter Gesprächspartner durch Fragen, Einwände, psychologische Klärungen ein viel besseres biographiosches Gesamtbild ergeben, als der Essay eines einzelnen.
Bemerkenswert ist Arno Schmidts politische Boshaftigkeit. Sie ist zwar selten zu finden, da er „Politica“ verabscheute und nie zu aktuellem Tagesgeschehen Stellung nahm (wenn es nicht das Verlagswesen betraf). Doch immerhin wurden fast alle seiner Essays in der Tiefkühlphase des Kalten Krieges, 1955-1965 (und zu guter Sendezeit), ausgestrahlt. Da haben einige Herrschaften sicher arg schlucken müssen, wenn er so ganz nebenbei von der „ewig deutschen KZ-Justiz“ sprach. Über Frenssen schreibt er einmal: „So viele, die nun wirklich weit Entsetzlicheres angestellt haben, sind 'entnazifiziert‘ & amnestiert & sitzen unbzw. nurhalbbekannt wieder mitten unter uns, in Amt & Würden.“ Daß Frenssen selbst der windigste Opportunist war, verschweigt Schmidt freilich auch nicht.
Im letzten Band dieser witzig-wichtigen Ausgabe gibt es leider ein paar Belanglosigkeiten. Der Herausgeber Jan Philipp Reemtsma versammelt hier, der lieben Vollständigkeit halber, neben den Funk-Essays kurze Zeitungsbeiträge von Schmidt. Wenn der Abschnitt über Benn auch treffsicher den Lyriker lobt und den prosaischen Drückeberger tadelt, so erfährt man doch über Fontane und Paul Scheerbart nichts Bedeutendes. Andererseits finden sich dann 150 Seiten, die den immer wieder überarbeiteten Essay über Karl May in allen Varianten vollständig wiedergeben. Zweifellos hat Schmidt an May einen Narren gefressen, dessenArdistan und Dschinnistan er in den höchsten Tönen zu loben nicht müde wird. Einmalig köstlich wiederum ist die Erstveröffentlichung eines Textes, in dem Schmidt Mays Werk tiefenpsychologisch koloriert und die Sexual- und Fäkalsymbolik gleich säckeweise zutage fördert.
Seltsam bei all dem ist nun, daß Schmidt, der sich vorgeblich um Rettungen bemüht, unter 26 Essays keine Frau behandelt. Da wird zwar Caroline Flachsland (Herders Frau) als „Elektra Weimars“ bezeichnet, gleich darauf aber „vorbildlich“ genannt, wie treu sie ihren Herrn Gemahl umdienerte. Schmidt zeigfingert gelegentlich auf Rahel Varnhagen, findet die „allwissenheitssüchtige Groß -Klatschbase“ allerdings nur lästig. Gottsched wird erwähnt, seine scharfsinnig-satirisch schreibende Frau Louise Adelgunde Victorie nicht. Der geschätze Wieland verliebt sich zwar eifrig, seine erste Verlobte hingegen, die Schriftstellerin Sophie von La Roche, wird nicht einmal genannt. Kein Wort über Hedwig Dohm oder Franziska zu Reventlow, über Else Lasker-Schüler oder Anna Seghers.
Den Grund dafür muß man bei Schmidt nicht zwischen den Zeilen suchen. Frauen seien letztlich kulturfeindlich, „zumindest im Sinne der augenblicklichvorhandenen Kultur; die ja notorisch von Männern aufgebaut ist. So genau wie wir Männer wollen die Frauen's gar nicht wissen; ...womit ich nicht bestritten haben möchte, daß 'Die Frauen‘ durchaus eine ganz eigenständige Kultur aufzubauen imstande wären! Aber die - im Männersinne 'intelligenteste Frau‘ wird immer nur 1 Schatten sein, im Vergleich mit einem nur einigermaßen wohlgeratenen intellektuellen Mann...“
Arno Schmidt, von dem ein Schulfreund den Satz überlieferte: „Das Erlebnis des Phänomens Weib muß man einmal hinter sich gebracht haben“, wäre (mit Recht) auch intellektueller Chauvinismus vorzuhalten. Er war ein eingefleischter Misanthrop und Einsiedler. Besuche haßte er; Leute, die nicht so viel wußten wie er, wurden von ihm verachtet - ein mit Sicherheit exklusives Krititerium.
Weit früher als die Essays - 1948/49 - entstand die Sammlung fiktiver Briefe, die sich in der Wundertüte finden. Dem damaligen Zaudergeplänkel des Rowohlt-Verlags ist es zu verdanken, daß Bernd Rauschenbach sie nun bei Haffmans in einer schön gebundenen (und abwaschbaren, als Kaffeetassenuntersatz geeigneten, also insgesamt brauchbaren, d.S.) Ausgabe erscheinen lassen konnte.
Ein bizarrer Haufen von Sendschreiben tut sich auf, in denen Schmidt seine Urteile über Werke der Literatur, der Übersetzung und der Mathematik verkleidet (und die er für seine späteren Werke zum Teil als Steinbruch benutzt hat). Es sind Briefe, die seine Denklandschaft glänzend abbilden, biographisch aufschlußreich sind. Und es ist ein Buch für Wissende und Schmidt-Sammler: Kein Brief, der nicht mit Anspielungen und Hinweisen auf Späteres gespickt ist. Adressiert sind sie an Schriftsteller, Wissenschaftler, Freunde, Übersetzer - und an die UNO: Ihr schlägt er die Schaffung von „Kulturfreistätten“ auf fernen Inseln vor, die Bilder, Bücher etc. vor kommenden Kriegen schützen sollen eine Verbeugung vor J.G.Schnabel, dessen Insel Felsenburg ihn zeitlebens schwer beeindruckt hat.
Wahlweise macht Schmidt sich zum Zeitgenossen von z.B. Schnabel oder Fontane. An Dante schickt er ein emphatisches Lob für dessen Höllenbeschreibung: „Nie werden die Denkmale Ihres reichen Geistes - Auschwitz, Dachau, Buchenwald, Belsen - im Gedächtnis der Nachwelt untergehen!“ - und bedankt sich „mit deutschem Gruß“. Eine originelle Idee, den zeitlichen Abstand zu einem Werk schrumpfen zu lassen!
Den Herausgebern von Logarithmentafeln (Schmidt befaßte sich leidenschaftlich mit deren Stellenerweiterung) reibt er ihre Fehler unter die Nase, für Eingeweihte mit Tafeln und Rechenbeispielen. - Einem stümpernden Poe-Übersetzer geht er ans Leder - und schickt ihm gleich seine eigene Übersetzung vom House Usher mit. Diese übersetzung und seine Jugenderzählung Die Fremden, die er erfurchtsvoll an Schnabel sendet, sind die eigentlichen Zuckerstückchen des Bandes. Sie gehören zu Schmidts frühesten prosaversierten Stücken und sind bislang unveröffentlicht.
Der Wunder sind noch einige in dieser Tüte, in köstlich schnippisch-schmidtschem Ton geschrieben - jedoch meist „mit bewaffnetem Auge“ zu lesen: Schmidt schreibt für Wissende. „Ich grüße Sie, und wünsche Ihnen ein leichteres Schicksal als es sein wird. Ihr: Arno Schmidt.“
Christian Vandersse
Arno Schmidt: „Zweite Zürcher Kassette. Das essayistische Werk zur deutschen Literatur in 4 Bänden“, hrsg. von Jan Philipp Reemtsma, broschiert, zusammen 998 Seiten, 40Mark
„Arno Schmidts Wundertüte. Eine Sammlung fiktiver Briefe aus den Jahren 1948/49“, hrsg. von Bernd Rauschbach, 212 Seiten, gebunden, 38Mark, beides Haffmans Verlag, Zürich.
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