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Sport mit der ganzen Familie

Den Tennisreportern kann der Vorwurf, sie würden nur 1:0-artig berichten, wirklich nicht gemacht werden  ■  P R E S S - S C H L A G

Ja, herzlich willkommen, liebe Zuschauer, wir schalten uns jetzt live zu und kommen gerade recht, denn der Weltranglistenzweite - hier sehen Sie übrigens die neue Freundin von Boris, über die in den letzten Tagen wild spekuliert wurde, schön, daß unser Regisseur sie in dieser entscheidenden Phase des Matches mal ins Bild rückt - ja, wie steht es, liebe Zuschauer!, es steht nicht schlecht, die Mienen von Boris‘ Eltern zeigen es hier wohl recht deutlich, Vater Karl-Heinz, daneben, mit Mantel und Schal, das ist Mutter Elvira, ja, an dieser Stelle einmal ein Kompliment an die Regie, denn besser als mit dieser Einstellung kann man die ganze Anspannung, die Dramatik dieses wirklich aufregenden Matches kaum verdeutlichen: Mutter Elvira kneift die Augen zu und kann gar nicht hinschauen, während Vater Karl-Heinz die rechte Hand zur typischen Becker-Faust ballt, die kleine Blonde mit dem lustigen Zopf - dies nur für die Zuschauer unter Ihnen, die die Tennisszene nicht so intensiv verfolgen - ist das Pflegekind der Cousine von Mutter Becker, sie war Boris‘ erste Duettpartnerin im Blockflötenunterricht, eine nette Geste, daß er sie hierher eingeladen hat, mit Sicherheit ein Mädchen, das man im Auge behalten muß, da ein herrlicher Rückhandslice von Lendl, früh getroffen, ihr Vater ist - das nur ganz nebenbei Stukateurmeister in Groß-Gerau und dort stellvertretender Vorsitzender des örtlichen Teckelzuchtvereins „Staupe Nord“, ja meine lieben Zuschauer, das könnte jetzt die vorentscheidende Phase des Matches sein, auf welche Seite der Waagschale wird Fortuna jetzt noch ein As werfen, die Anhänger von Boris sind wahrhaftig einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt.

Diesen Mann, Dank an die Regie, kennen Sie alle, Roberto Blanco, heute im originellen Loden-Look, wie Sie, liebe Zuschauer, immer in der ersten Reihe, jetzt hat Lendl Aufschlag, und der hier schaut ja immer so grimmig drein, Boris‘ Manager Ion Tiriac, der Rumäne hat es auch dieses Mal wieder geschafft, dieses sportliche Großereignis zu einem Glanzpunkt in der Geschichte des Deutschen Tennis Bundes zu machen, hier sehen wir gerade, vom Kameramann eindrucksvoll eingefangen, Bilder aus dem VIP-Bereich, Langusten, Spanferkel, Wildentenbrust, das ist eine nette Idee, lauter kleine Tennisbälle aus Marzipan, alles, was das Herz begehrt, jetzt geht Boris ans Netz, seine Freudin stößt einen spitzen Schrei aus, ein wirklich erfrischend natürliches Mädchen, lässiges Top-Shirt, stonewashed Jeans, und dazu ein schwarz-rot-goldenes Schleifchen als kecke Applikation im frech geschnittenen braunen Kraushaar, die Boulevardpresse spekuliert ja noch immer, aber Boris hat es in der Pressekonferenz heute morgen angedeutet, es war vor drei Wochen, als Boris der gelernten Bauzeichnerin in einem Supermarkt in Köln-Weidenpesch mit dem Wägelchen in die Hacken fuhr, was für ein fantastischer Volleystopp, was für ein Gefühl im Handgelenk, Boris‘ neue Freundin, hier sehen wir sie jetzt doch etwas entspannter im Gespräch mit unserem Bundespräsidenten - auch er mit Herz für den weißen Sport hat die Maße 85-65-80, dies nur für Fans unter Ihnen, das war der Matchball, diesen Mann kennen Sie bereits, Roberto Blanco springt zur Gratulation über die Bande, ein schönes Match, ein neuer Sieg für das deutsche Tennis, und Sie, liebe Zuschauer waren bis zur Entscheidung mit dabei.

Rüdiger Grothues

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