: Die Angst vor dem Neuen
Deutschlandexperte Joseph Rovan zur „Deutschen Frage“ ■ I N T E R V I E W
Joseph Rovan ist der unumstrittene Doyen unter den französischen Deutschlandexperten. Von den Nazis 1933 als Jude aus Deutschland vertrieben, später nach Dachau verschleppt, hatte er sich dennoch schon 1945 für die Aussöhnung eingesetzt und wurde Herausgeber der deutsch -französischen Zeitschrift 'Dokumente - Documents‘.
taz: Kann die Destabilisierung in den osteuropäischen Ländern Elemente einer Antwort auf die „deutsche Frage“ geben?
Joseph Rovan: Natürlich. Otto Reinhold, SED-Chefideologe, hat unlängst gesagt: Wenn die DDR kein sozialistischer Staat ist, warum soll sie dann noch ein Staat sein? Polen und Ungarn waren schon immer Nationalstaaten, während die DDR eine künstliche Erfindung ist. Aber die deutsche Frage ist ja nicht mit Wiedervereinigung gleichzusetzen. Man kann sich zwei demokratische deutsche Staaten vorstellen, eine DDR mit dem Status von Österreich etwa.
Welche Entwicklung kann sich Frankreich in diesen Gedankenspielen denken?
Es gab in Frankreich immer Leute, die Angst davor hatten, daß die Deutschen nach Osten abwandern - ein grotesker Gedanke angesichts der dortigen Zustände. Das französische Außenministerium ist nicht dafür bekannt, daß es besonders weitreichende Visionen der Zukunft Europas hat. Das wünschenswerte Szenario für Frankreich wären die vereinigten Staaten von Europa. Einen deutschen Nationalstaat wiederzuvereinigen wäre erstens absurd und zweitens unmöglich in einem Zeitalter, in dem die Nationalstaaten sowieso nicht mehr dasselbe leisten können wie früher. In einem großen Europa mit 320 Millionen Menschen wäre das Übergewicht der 80 Millionen Deutschen nicht mehr so hoch.
Nun scheint die französische Regierung mehr Angst vor einer Destabilisierung zu haben als vor einer Wiederannäherung der beiden deutschen Staaten.
Das ist dummes Zeug. Offizielle haben immer Angst vor Neuigkeiten. Lieber einen bekannten Stalin als einen unbekannten Gorbatschow.
Interview: smo
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