: Europa rangiert vor Deutschland
Wie grau waren doch die Jahre im Zeichen von „le Realpolitik“, als Frankreichs Deutschlandpolitik nur eine Alternative hatte: den „deutschen Freunden“ die Resignation in die Teilung schmackhaft zu machen, ohne sie derart zu brüskieren, daß die Bundesdeutschen Geschmack an einer „Pax sovietica“ finden könnten. Doch siehe da, dank Gorbatschow scheint sich ein dritter Weg aufzutun: Der Osten droht nicht mehr, sondern läuft mit fliegenden Fahnen über. Die DDR muß
-wer weiß es denn? - vielleicht nicht mehr um den Preis einer neutralen BRD erworben werden, sondern gibt sich freiwillig her!
Nachdem für die französischen Zeitungen die „deutsche Frage“ seit Jahren erledigt war und nur noch dann schaudernd ausgepackt wurde, wenn sich hierzulande pazifistische und „nationalneutralistische“ Tendenzen zu regen schienen, wird seit zwei Wochen die deutsche Frage „wieder auf die Tagesordnung“ gesetzt. Die Bilder von seligen Ex-DDRlern, die „Demokratie“ und „Republik“ vom Heck ihrer Trabis kratzen - liefern sie nicht den Beweis, daß der Status quo der kalten Nachkriegszeit in Wirklichkeit höchst elastisch ist? Giscard, der stets versucht hatte, durch eine eigene SU -Politik die deutsche Teilung fortzuschreiben, spricht plötzlich von „demselben Volk“ der Deutschen; Außenminister Dumas sieht die „Wiedervereinigung bereits im Gange“. Und gibt nicht Mitterrands Wort von der „legitimen Sorge der Deutschen um Einheit“ dem ganzen Sinn und Segen?
Zu guter Letzt meldeten sich noch die Erben de Gaulles zu Wort. Im Parteiblatt der RPR 'La Lettre de la Nation‘ schreibt Editorialist Georges Broussine: „Bisher wurde von einer mehr oder weniger engen Annäherung der beiden Deutschländer im Tausch gegen eine Neutralisierung ausgegangen. Es gibt keinen Grund mehr, an diesem alten Schema festzuhalten. Die Wiedervereinigung wird sich eventuell durch das Verschwinden des ostdeutschen kommunistischen Staates realisieren. Nichts rechtfertigt also die offensichtliche Zurückhaltung der französischen Regierung bezüglich der Wiedervereinigung.“
Am Pariser Quai d'Orsay, dem Sitz des Außenministers, bewertet man derartige Kunstflüge schlicht als „Quatsch“ so ein Beamter aus dem Kabinett. Und er erinnert daran, daß Pariser Antworten auf deutsche Fragen nur zu oft innenpolitische Manöver waren. Ein forsch lanciertes Szenario - und schon blockiert die mißtrauisch gewordene Medienmeinung deutsch-französische Kooperationen. Dieser Mechanismus kann allerdings nur funktionieren, weil der „Rapallo-Komplex“, die Angst vor einer deutsch-sowjetischen Verständigung hinter dem Rücken Frankreichs, bei vielen Abgeordneten noch längst nicht überwunden ist.
Nein, Gorbatschows Elan und Honeckers Siechtum hätten in der französischen Politik gegenüber den beiden Deutschländern, so wird versichert, nichts Grundsätzliches verändert. Leitlinie der Politik Mitterrands bleibt der KSZE -Mechanismus: Alle Schritte, die die freie Zirkulation von Personen, Waren und Ideen fördern, werden unterstützt, ebenso eine vorsichtige Abrüstungspolitik. In dieser Optik ist kein Platz für eine eigene französische Ostpolitik, wie sie Giscard noch betrieben hat: Frankreich wird außerhalb des KSZE-Prozesses keine Initiativen ergreifen, um am deutsch-deutschen Status quo etwas zu ändern. Roland Dumas ist kein Freund von Szenarien - doch falls Gorbatschow „die deutsche Karte bei den Abrüstungsverhandlungen spielt“, würde Frankreich, so hieß es diese Woche im Ministerium, etwa einer alliierten Truppenverdünnung auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze zustimmen, sofern die Initiative im Rahmen der Wiener Verhandlungen stattfände.
Bei genauerem Hinhören lassen die jüngsten Erklärungen der gewichtigen Politiker noch eine zweite Maxime französischer Außenpolitik erkennen: Europas Vereinigung rangiert vor der deutschen. Punktum. „Wenn wir Europäer mit unserer Einheit erst genügend vorangekommen sind, können sich auch andere Regionen und die DDR der EG anschließen, aber nicht dem westdeutschen Staate“, präzisierte Giscard letzte Woche. Mitterrand und Dumas sprechen seit jeher ausdrücklich nur von einer weit auslegbaren „Einheit“, die anzustreben für Deutsche nur verständlich sei. Laurent Fabius, Mitterrands Benjamin und Präsident der Nationalversammlung, warnt sogar, daß „das, was passiert, ein entsetzlich destabilisierender Faktor für den Aufbau Europas“ sein könnte. Auch hier: Europe first. Lediglich in Sachen Berlin hat sich etwas verändert. Zwar wird Frankreich keine eigenen Schritte zur Veränderung des Status von Berlin unternehmen. Falls aber der Westberliner Senat und die DDR sich auf eine gemeinsame Initiative im Luftverkehr etwa einigen könnten, würde der Quai d'Orsay dies „wohlwollend prüfen“.
Alexander Smoltczyk, Paris
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