DER ENTFESSELTE FUNKTIONALIST

■ Ausstellung „Hannes Meyer“ im Bauhaus-Archiv

Hannes Meyer hatte keinen Schatten. 1954, als er in der Schweiz starb, war er längst vergessen. In Basel kam er 1889 zur Welt, mußte ins Waisenhaus, später auf den Bau. Nachts büffelte er Stil-Lehre und Bodenreform. Zum Architekturdiplom reichte es nicht, dafür machte er die Kunstgewerbeschule. Nirgendwo blieb er länger als zwei, höchstens drei Jahre beschäftigt, in Berlin, Essen, Gent, Dessau, Moskau, Genf und Mexiko-Stadt. Überall machte er Schwierigkeiten, war sauer auf Bauherren und Architektenkollegen, Hochschulen und politische Institutionen. Immer reichte das Geld nicht.

Meyer baute wenig: eine Großsiedlung und die Bundesschule für den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund, Laubenganghäuser und ein Kinderheim. Dafür träumte er von neuen sozialen Lebensformen, entwarf ganze Städte und plante riesige Wohn- und Kulturanlagen. Selbst ein Zuhause hatte er nie. An seinen Freund, den Maler Willi Baumeister, schrieb er von seinem Herumstreunen: „für uns nomaden ist das hotel der einzige entsprechende wohnort auf diesem globus...“ Wollte er sich doch einmal einrichten, flog er hinaus. Machte er eigene Pläne, überholte ihn die Zeit und vertrieb ihn. Meyer, der Architekt, Urbanist und Lehrer, so scheint es, sollte nicht sein. Er wollte zuviel, zu extrem, war Kommunist.

1965, gut zehn Jahre nach seinem Tod, ließ es sich Walter Gropius nicht nehmen, seinem ehemaligen Freund und Nachfolger als Bauhausdirektor einen Gruß hinterherzuschicken, der nachhaltig wirken sollte. In Claude Schnaidts Monographie über Hannes Meyer schrieb Gropius einen hämischen Kommentar; gegen den Willen des Autors: Meyer habe seine Seele dem Sozialismus verkauft, sei ein niederträchtiger Betrüger und Bauhauszerstörer. „Er war ein radikaler Kleinbürger. Seine Philosophie gipfelte in der Behauptung: Leben sei Sauerstoff plus Kohlenstoff plus Zucker plus Stärke plus Eiweiß, worauf Mies ihm prompt antwortete: Rühren Sie das mal zusammen, es stinkt.“ Da hat man noch lange schlechte Karten.

So gleicht die Ausstellung „Hannes Meyer“ im Bauhaus-Archiv einer Chronik zur Rehabilitation eines Architekten, dessen Oeuvre nicht allein wegen seiner sozialen Dimension, sondern auch wegen seiner lauten Proklamation eines allzu entfesselten Funktionalismus recht mißtrauisch angesehen wurde. Schon Meyers frühe Euphorie über die modernen technischen Bauverfahren, seine Idealisierung der durch Automobil, Ozeandampfer und Radioantenne dynamisierten Zeit und die Vorstellung, „die neue Welt“ (Meyer) mit ihren wägbaren, meßbaren und sichtbaren Funktionen korrespondiere mit einer Architektur in klaren und objektiven, wissenschaftlichen und eindeutigen Formen, ließen das Gespenst des seriellen, standardisierten Bauens auftauchen.

Hinzu kam, daß Meyer auf der Suche nach einer sachlichen Form jenes Bild vom Architekten, der Künstler und Zauberer gleichermaßen sein wollte, zerstörte und ihm den Spiegel des Ingenieurs vorhielt: „Architektur ist keine Baukunst mehr. Das Bauen ist eine Wissenschaft geworden. Bauen ist eine Handlung überlegter Organisation. Der Architekt ist der Organisator dieser Bauwissenschaft.“ Architektur ist also nicht mehr Kunst, sondern nurmehr Konstruktion. „Alle diese Dinge sind ein Produkt der Formel: Funktion mal Ökonomie.“ (Meyer) Meyer setzte sich damit dem Verdacht einer hemmungslos „internationalistischen“ Tendenz aus, die in ihrem Verlangen nach Zweckmäßigkeit Architektur als formelhafte, kalte Ästhetik ablehnte. Und das verbaute die Einsicht in eine andere Version des Funktionalismus, nämlich die einer systematischen Bedarfsanalyse und ihrer ästhetischen Erscheinung.

Meyers erste selbständige Bautätigkeit, die Genossenschaftssiedlung Freidorf bei Basel (1919-23), zeigt in ihrem dreieckigen Grundriß noch den Gedanken palladianischer Harmonie, zugleich aber werden die Gleichförmigkeit der roten Häuserzeilen, die orthogonalen Wege, Straßen und Plätze einer hierarchischen Ordnung unterstellt, die vom Zentrum der Anlage ausgeht. Das Genossenschaftshaus, kultureller wie ökonomischer Dreh- und Angelpunkt, liegt dort gewissermaßen im Schwerpunkt der symmetrisch geplanten Siedlung, auf seiner höchsten Stelle, und präsentiert sich quasi als „Stadtkrone“ einer Gemeinschaft, deren sozialer Zusammenhalt im architektonisch -funktionalen Gestaltungsprinzip symbolisiert wird.

Bereits in den darauffolgenden Planungen und graphischen Arbeiten tauchen künstlerische Begriffe wie „Komposition“ und „Ordnung“ schon nicht mehr auf, sondern werden durch abstrakt-mathematische Figurationen ersetzt, von optischen Gesetzmäßigkeiten und konstruktiv-technischen Gestaltungen abgelöst. Zwar ist Meyers schnittiges Projekt für einen gleichsam schwebenden Schulbau (1926) noch ganz von einer Idee geprägt, deren konstruktive Rasanz den Wolkenbügeln Lissitzkys oder Tatlins Kultbauten entlehnt ist und die ihre technische Funktionalität in der Form geradezu ausstellt, doch entsteht bald darauf mit dem Bau der Bundesschule für den Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund in Bernau bei Berlin (1927) ein Bau „als biologischer Vorgang“ (Meyer), eine funktional-lebendige Architektur also, die man als Meyers Geniestreich bezeichnen kann: Gemeinsam mit Hans Wittwer entwarf er auf einer Waldlichtung ein recht unspektakuläres zwei- und dreigeschossiges Gebäude, das von einer gläsernen Passage zusammengehalten wird und sich der Topographie der leicht welligen Landschaft anpaßt, als wäre es selbst ein Teil von ihr.

Ausgangspunkt für den Bau war ein „sozialpädagogisches Funktionsdiagramm“ (Meyer) für 120 Studierende, das Personal und die Lehrer, die in ähnlich strukturierten Baukörpern untergebracht waren. Der ausbalancierte Rhythmus der Z -förmigen asymmetrischen Gesamtanlage mit verstaffeltem Mittelteil und zwei gegeneinander versetzten Endpunkten folgt in seiner Architektursprache nicht mehr mechanisch den Anforderungen eines funktionalen Programms, sondern orientiert sich am Verhalten der Benutzer und dem Leben einer kollektiven Gemeinschaft. Darüber hinaus entwickelte Meyer am Eingang der Schule sowie bei den Gemeinschaftsräumen eine Art „erzählender“ Architektur, die über die Bauteile ihre Funktionen verraten und ihre innere Funktionalität nach außen kehren.

Für Furore sorgte Meyer geichzeitig am Dessauer Bauhaus, das er von 1928 bis 1930 als Direktor leitete. Wie das Bauen, so versuchte er auch die Architekturlehre zu einer wissenschaftlichen Methode zu machen. Sie sollte sich nicht mehr an künstlerischen, sondern nur noch an sozialen und „biologischen“ Problemen des Alltags orientieren. Mit der Devise „Volksbedarf statt Luxusbedarf“ und einem Unterrichtsplan, der nicht mehr die stilistisch-funktionale, sondern eine „brauchbar-funktionale“ Architekturauffassung lehren sollte, führte Meyer Kurse am Bauhaus ein, die den schnittigen Formalismus von Gropius oder Kandinskys abstrakte Konstruktionen abzulösen suchten. Zugleich war das neue Programm gekennzeichnet durch die Einführung der Natur und Geisteswissenschaften im Lehrplan, eine am Rationellen orientierte Baustofflehre und den kooperativen Aufbau der Werkstätten.

Mit dem Rausschmiß Meyers aus dem Bauhaus (1930) - eine Gemeinschaftsaktion reaktionärer Dessauer Stadtpolitiker und eitel-konservativer Bauhauslehrer - trat dort ein Stillstand ein, den Mies van der Rohe bis zum bitteren Ende akademisch verwaltete. Und Meyers weiterer Weg ist einer der Desillusionierung, die ihn bis zu seinem Tod nicht mehr losläßt: Erst in der Sowjetunion (1930-36), wo er als Hochschullehrer und Stadtplaner seine Vorstellungen einer funktionalistischen Ästhetik - beim Erweiterungsplan Moskaus (1932) oder bei der Planung der neuen Stadt Sozgorod (1932)

-immer mehr vom Neoklassizismus stalinistischer Baupolitik eingekreist sah, später in Mexiko (1939-49), wo seine Arbeiten an verschiedenen Planungsinstituten kompositionelle Entwürfe von Arbeitersiedlungen, Kultur- und Sportanlagen sowie Hochhausprojekte - schließlich von anderen Architekten, seinen „Erzfeinden“, vollendet wurden immer scheint Meyer sein eigentliches Wollen, das soziale Bauen, verwehrt worden zu sein. So schreibt er in einem Brief an den Architekten Artaria aus Mexiko: „Aber materiell geht es miserabel, da ich von dieser Regierung fortgesetzt betrogen werde. Man tut alles, um mich zum Gehen zu bringen, konstruiert Zwischenfälle. Ich denke nicht, daß ich mich überhaupt noch lange hier werde halten könnn.“

In dem dicken Katalog, der voller Neuigkeiten und Ausgrabungen steckt, gibt es eine Fotografie, auf der eine Gruppe kleiner Kinder zahnlückig in die Kamera lacht. Sie hocken unter einem kleinen Vordach, haben selbstgebastelte Puppen in der Hand und zappeln mit den Beinen. Aufgenommen ist das Bild im Spielhof des Kinderheimes Mümliswil, Meyers letztem Haus, das er während seines Aufenthaltes 1937-39 in der Schweiz gebaut hat. Mehr muß man dazu nicht sagen.

rola

Die Ausstellung „Hannes Meyer - Architekt Urbanist Lehrer“ ist bis zum 19. November im Bauhaus-Archiv zu sehen, täglich außer dienstags, von 11 bis 17 Uhr. Der Katalog kostet 45 Mark. Außerdem ist eine Fahrt nach Bernau zur ehemaligen ADGB-Schule geplant. Wer mitwill, rufe im Bauhaus-Archiv an.