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Zwischen dem Tiger und dem Krokodil

■ Nach dem Abzug der Vietnamesen beginnt in Kambodscha eine neue Etappe der Auseinandersetzung

Die Wahl haben „zwischen dem Tiger und dem Krokodil“ - das alte kambodschanische Sprichwort - wird heute auf die Roten Khmer und die Vietnamesen angewandt. Das Krokodil ist fort, jetzt kommt wieder der Tiger, so sieht es aus. Widerstandsführer Prinz Sihanouk glaubt, ihn instrumentalisieren zu können, indem er ihn politisch einbindet (siehe Interview). - Der vietnamesische Außenminister fordert derweil, daß nun die Waffenlieferungen an die anderen Konfliktparteien beendet werden sollten. Überwachen soll das eine Kommission unter Schirmherrschaft der Pariser Kambodscha-Konferenz.

Prophezeihungen über die Zukunft des Landes haben die euphorischen Abschiedszeremonien für die „Befreier“ abgelöst. Hunderte von ausländischen Beobachtern, die auf Bitten von Premierminister Hun Sen den Truppenabzug informell „verifizieren“ sollten, bleiben skeptisch, was die Verteidigungskraft der kambodschanischen Armee angeht. Immerhin bereitet die Koalition des „Widerstandes“, die von den 30.000 Guerilleros der Roten Khmer dominiert wird, eine größere Offensive vor. Schon seit Wochen ist die Grenzstadt Pai Lin unter Beschuß, und obwohl Hun Sens Miliz den Attacken standhalten konnte, droht die Stadt nun von Phnom Penh abgeschnitten zu werden.

Militärs in Bangkok vermuten, daß die Roten Khmer nach Absprache mit ihren chinesischen Schutzherren die Strategie der afghanischen Mudschaheddin übernommen haben. Pai Lin ist zwar nicht so bedeutend wie Afghanistans fünftgrößte Stadt Dschalalabad, die von den Mudschaheddin belagert wird eigentliches Ziel der roten Khmer ist aber nach Einschätzung von Militärexperten die Provinzhauptstadt Battambang. Dort wollen sie noch vor Weihnachten ihre provisorische Übergangsregierung etablieren.

Seit Monaten bauen die Roten Khmer in der Grenzregion zu Thailand ihre militärische Schlagkraft aus. Aus den Khmer -Flüchtlingslagern entlang der thailändischen Grenze wurden Tausende als Träger oder Kundschafter zwangsrekrutiert. Und ein Arzt aus dem Lager „Site Two“ berichtet, er behandele zunehmend Verletzungen, die durch Sprengkörper und Minen verursacht würden, das belege eindeutig einen Anstieg der Kampfhandlungen.

Einschüchterung

Vorerst wird der Widerstand sich allerdings darauf konzentrieren, seine Brückenköpfe auszubauen, und die Folgen des vietnamesischen Abzugs abwarten. Örtlichen Provinzbeamten zufolge haben die Roten Khmer in den vergangen Monaten eine Einschüchterungskampagne betrieben. Dabei greifen sie auf altbewährte Strategien zurück: Häuser wurden in Brand gesteckt, Getreide vernichtet und Dorfvorsteher ermordet.

Zweifelsohne ist Phnom Penh das eigentliche Ziel der Guerilla, aber Khieu Kanharith, Herausgeber der bedeutendsten Tageszeitung des Landes, sieht nur eine geringe Bedrohung für die Hauptstadt. Er gibt allerdings zu, den Roten Khmer könnte es gelingen, durch den Einschlag der einen oder anderen Rakete „Lärm in der Stadt zu machen“.

Als Ausgangspunkt für die Vorstöße auf Phnom Penh ist die Provinz Komong Speu von strategischer Bedeutung für die Guerilla. Die Zahl bewaffneter Zusammenstöße rund um die Provinzhauptstadt gleichen Namens ist denn auch in diesem Jahr drastisch angestiegen. Sechsmal ist der örtliche Polizeichef in diesem Jahr bereits in Gefechte verstrickt worden, während es seinen Aussagen zufolge im vergangenen Jahr nur dreimal dazu kam.

„Während die Bombeneinschläge in Kabul die Moral der Bevölkerung nicht wesentlich beeinträchtigt haben, dürften die Auswirkungen in Phnom Penh erheblich sein“, bemerkte jüngst ein aus Kambodscha zurückgekehrter Diplomat. „Sollten die Roten Khmer nur den Anschein erwecken, in die Stadt zurückzukehren, bricht dort Panik aus.“

Immer mehr Opfer

Vertreter ausländischer Hilfsorganisationen in Kambodscha, die vorgestern in einem gemeinsamen Kommunique ihre jeweiligen Regierungen aufgerufen haben, eine Rückkehr der Roten Khmer zu verhindern, bestätigen die wachsende Zahl der Opfer. Die meisten Verletzungen rühren in den Westprovinzen von Minen chinesischer Herstellung. Die Provinzhospitäler in dieser Region sind so überfüllt, daß viele abgewiesen und nach Phnom Penh geschickt werden.

Dennoch zeigt Kambodschas Führung Optimismus. Parteichef Heng Samrin und Premierminister Hun Sen versicherten vorgestern Reportern gegenüber, ihre Armee werde sich als stark genug erweisen, um den Angriffen der Roten Khmer standzuhalten. Sicher gibt es jetzt überall im Land Männer, die mit dem Pflug in der einen und einer primitiven Waffe in der anderen Hand voller Zuversicht darüber sprechen, wie sie diesmal gegen die Roten Khmer kämpfen werden. Aber daß Hun Sen kürzlich wieder mit Zwangsrekrutierungen angefangen hat, ist wenig populär.

Obwohl der Premierminister große Töne spuckt und offensichtlich auf eine lange Schlacht vorbereitet ist, falls das notwendig wird, weiß er, daß nur eine diplomatische Lösung den dauerhaften Frieden bringen wird, nach dem sich Kambodscha nach zwei Jahrzehnten eines brutalen Konflikts sehnt.

Annäherung an Thailand

Für Hun Sen hält Thailand den Schlüssel für eine regionale Lösung in der Hand, die dann zu einem internationales Abkommen führen könnte. So fand er immerhin inmitten der Vorbereitungen für den Truppenrückzug noch Zeit, nach Bangkok zu fahren und mit dem thailändischen Ministerpräsidenten Chatichai zu reden, der gegenwärtig versucht, die gescheiterten Pariser Gespräche wiederzubeleben und wenigstens die vier Khmer-Fraktionen wieder an einen Verhandlungstisch zu bekommen.

Während Hun Sen eine diplomatische Lösung anpeilt, bemüht er sich in der Zwischenzeit darum, den Handel mit Thailand anzukurbeln. Davon profitiert Kambodscha nicht nur wirtschaftlich. Eine offene Grenze mit Thailand wäre auch militärisch - wie ein Hun-Sen-Berater im privaten Gespräch zugibt - „so viel wert wie fünf Bataillone“.

Jahrelang haben die Vietnamesen beteuert, sie würden ihre Truppen bis 1991 abziehen (oder eher, falls die Umstände es erlaubten) - doch nur wenige wollten ihnen Glauben schenken. Jetzt ist der Abzug eine Realität. Wichtiger ist, was jetzt von der vietnamesischen Besatzung bleibt. Die Behauptung der Guerilla-Koalition von einer totalen „Vietnamisierung“ des Landes ist völlig unbegründet, die Ansiedlung von Vietnamesen hat sogar geradezu einen kontraproduktiven Effekt gehabt und die alten Ressentiments gegen das Nachbarland noch einmal verstärkt - auch wenn Hun Sen und andere verständlicherweise nicht gerne zugeben, daß es überhaupt Probleme damit gegeben hat.

Die Sache wird noch komplizierter durch die Tatsache, daß es in Kambodscha immer viele Vietnamesen gegeben hat. Vietnamesische Fischer sind seit Jahrhunderten den Mekong -Fluß hinaufgesegelt, um im Tonle-Sap-See zu fischen. Und als in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Franzosen Indochina kolonisierten, brachten sie Vietnamesen nach Kambodscha, um sie als Angestellte in Regierungsstellen und auf den Gummiplantagen arbeiten zu lassen. Ende der sechziger Jahre lebte ungefähr eine halbe Million Vietnamesen im Land.

Viele von ihnen wurden in den siebziger Jahren getötet oder flohen. Doch als die wirtschaftliche Situation in Vietnam sich dann in den achtziger Jahren verschlechterte, bot Kambodscha bessere Bedingungen. Wieviele vietnamesische Siedler es heute in Kambodscha gibt, läßt sich unmöglich schätzen - allerdings scheint die Zahl, die der kambodschanische Widerstand nennt - über eine Million übertrieben. Viele von ihnen fliehen überdies jetzt, im Gefolge des vietnamesischen Truppenrückzugs, aus den Provinzen und sogar aus Phnom Penh zurück nach Vietnam.

Anwohner des Tonle-Sap-Sees berichten, daß vietnamesische Fischer bereits massenhaft von dort weggegangen sind. In den Dörfern rund um den See sind nur wenige Vietnamesen geblieben, im allgemeinen die ärmsten unter ihnen. Und die Bewohner der Stadt Kampot im Süden berichten, das Gros der zahlreichen vietnamesischen Bewohner habe die Stadt im letzten Monat verlassen, darunter auch die Eigentümer des besten Fischrestaurants.

Trotz des offensichtlichen und von der internationalen Presse verfolgten Truppenabzugs weigern sich die Diplomaten der westlichen Länder anzuerkennen, daß ein solcher Rückzug stattgefunden hat. Nun wird Prinz Sihanouks Einschätzung der Lage einem Glaubwürdigkeitstest unterworfen: Der Prinz behauptet, die Vietnamesen steckten mit den Roten Khmer unter einer Decke - so stark sind seine anti-vietnamesischen Gefühle. Die „Stimme der Khmer“, des Prinzen Untergrundsender, behauptet sogar, der vietnamesische Rückzug sei nichts als ein „schmutziger eigennütziger Trick“.

Sihanouk meint, die Vietnamesen würden sich nur zurückziehen, damit die verhaßten Roten Khmer aus dem Dschungel zurückkehren und die Macht in Phnom Penh wieder übernehmen könnten. Das würde den Vietnamesen den perfekten Vorwand liefern, um erneut in Kambodscha einzufallen und für immer dort zu bleiben. Nach derselben Logik müßte man den Vietnamesen auch vorwerfen, sie hätten den Roten Khmer schon einmal - 1975 - geholfen, an die Macht zu kommen.

Larry Jagan

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