SED-Reformer und die Kunst der Andeutung

Der Besuch des SED-Bezirkschefs Hans Modrow / Geschicktes Auftreten mit Betonrede und Reformen durch die Blume  ■  Von Max Th. Mehr

Stuttgart (taz) - „Perestroika ist ein positiver und notwendiger revolutionärer Prozeß in der Sowjetunion, der den sozialistischen Ländern viel zu sagen hat„; „Glasnost“ werde in der DDR keinesfalls abgelehnt: „Wir müssen in aller Offenheit mit unseren Bürgern die Diskussion führen.“

Beziehungsreiche Sätze - der bekannteste Unbekannte aus der DDR, der Dresdener Bezirkschef der SED, Hans Modrow (61), gibt sie in diesen Tagen in Stuttgart immer wieder zum besten. Sie fallen in einer fast gespenstischen Umgebung. Denn nicht nur Daimler-Benz, das Roboter-Institut der Uni Karlsruhe, die SPD und Lothar Späth stehen auf seinem Besuchsprogramm. Eingeschoben ist auch ein Treffen mit der örtlichen DKP - Pflichtprogramm des „kleinen Mannes“ ('Stuttgarter Zeitung‘) aus Dresden.

Offensichtlich wohler fühlte sich der einstige Schlosser und promovierte Ökonom bei der Besichtigung einer vollautomatisierten flexiblen Montagehalle im neu entstandenen „Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebstechnik“ der Uni Karlsruhe - dort, wo an den Fabriken der Zukunft geforscht wird. Nur leise fragt er nach, was die Gewerkschaften eigentlich zu vollautomatisierten Produktionsstraßen sagen, die ja ganze Berufe, seinen Schlosserberuf inklusive in der Zukunft überflüssig machen.

Auf den ersten Blick ist der Besuch ein kleines Wunder. Er findet statt, während gleichzeitig die Botschaften in Prag und Warschau mit DDR-Flüchtlingen überfüllt sind, jede Nacht Hunderte DDRler in den Westen flüchten, die SED brüsk eine Delegationsreise der SPD ausgeladen hatte. Auch der SPD-Chef Dieter Spöri glaubte bis zum Schluß nicht so recht daran, daß der gemeinhin als „Reformer“ geltende Dresdener kommen würde. Schließlich war allen Beteiligten klar, daß der Gast einem politischen Rummel ohnegleichen ausgesetzt sein würde.

Er meisterte die Situation bravourös. Mit drei Sätzen auf einer improvisierten Pressekonferenz im Hotel löste Modrow die Spannung des ihn umlagernden Journalistenpulks. Er sei sich völlig einig mit seinem Freund Micha Wolf, der vor einigen Tagen in einem Interview einräumte, es gebe „Dinge, über die wir nachdenken müssen“ - eine indirekte Forderung nach Reformen. Deutliche Worte fand der Dresdener Bezirksfürst auch für das westliche Medienspektakel um die DDR-Fluchten: „Menschenschicksale sind zu bedeutsam, als daß man sie in einer solchen Weise vermarkten darf.“ Kein ideologischer Schnickschnack über „Menschenhandel“, kein Wort zuviel, keines zuwenig.

Während der Besuch zeigt, daß die SED kein Interesse an verhärteten deutsch-deutschen Verhältnissen hat, demonstrierte der DDR-Besucher durch sein offenes Auftreten noch etwas anderes: Es gibt in der SED, allen Zweifeln zum Trotz, eine Reformriege, die derzeit in vielfacher Hinsicht politischen Spagat betreiben muß. So wunderte es niemanden, daß Modrow vor der baden-württembergischen SPD ein langweiliges und von Zuhörern als „Betonrede“ bezeichnetes Referat hielt und damit gleichzeitig seine Hausaufgaben erledigte.

Unklar bleibt, welches Signal von dem Besuch ausgehen sollte. Entweder wollten seine innerparteilichen Gegner in der SED ihn ins offene Messer der West-Medien laufen lassen, oder es ist der Versuch der SED-Reformkräfte, mit einem deutlichen Signal auf ihre Existenz aufmerksam zu machen. Bei seiner Rede anläßlich des SPD-Empfangs betonte Modrow fast inständig die Notwendigkeit des Dialogs: Mit dem gemeinsamen Papier von SPD und SED sei der „Rahmen für unsere Gespräche gegeben“. Und: „Auch unter komplizierter gewordenen Bedingungen kann miteinander geredet werden.“ Ein Dialog brauche „eine ganz bestimmte Kultur, und die wollen wir auch künftig pflegen“.

So weit konnte er gehen, und es ist eine andere Sache, diese Sätze zu interpretieren und sie auch auf die innergesellschaftliche Diskussion in der DDR zu beziehen. Wer erwartet hatte, Modrow würde sich hier in Stuttgart zur Opposition in der DDR äußern, der mußte sich immer wieder mit der Antwort zufrieden geben, daß „wir darüber in der DDR reden, nicht hier“. Aber: Kein Wort fiel gegen die Oppositionsgruppen in der DDR, keine Litanei über Staatsfeinde - auch das sagt einiges über den Besucher. Ob das allerdings ausreicht, ihn zum Gorbatschow der DDR zu stilisieren?

Dem SED-SPD-Treffen gelang es offenbar nicht, konzeptionell über deutsch-deutsche Politik nachzudenken. Im Mittelpunkt stand das Festhalten an den kleinen Schritten. Ob dies angesichts der Reformen in Osteuropa und dem Druck in der DDR noch ausreicht, ob nicht ein Reformer wie Modrow sehr viel deutlicher und schärfer die innenpolitische Stagnation in der DDR kritisieren müßte, diese Frage stellt sich weiter. Über welche Hausmacht Modrow und andere Reformer verfügen, das wird wohl erst der SED-Parteitag im nächsten Jahr zeigen.