: Das Leben ein Lehrstück
■ Die politische Biographie der Frau Anna Wadle
Frau Anna Wadle beginnt sechsundsiebzigjährig ihre Lebenserinnerungen aufzuschrieben. Mit der Niederschrift ihrer Erinnerungen ist Anna Wadle vielen Bitten nachgekommen, „obwohl sie immer meinte, es wäre nicht so wichtig, ein alltägliches Leben kleiner Leute mit viel Kampf, mit Sorgen und Schmerzen festzuhalten.“ So können wir es dem Nachwort der Herausgeberin, Loretta Walz, entnehmen, welche die eminente Bedeutung der Lebenserfahrung von Anna Wadle für politisch und historisch interessierte Leser und Leserinnen erkannte. Denn was wissen wir denn vom Leben und Kampf der kleinen Leute, die in den zwanziger Jahren schon wußten, Hitler bedeutet Krieg und für ihr eigenes Leben die politischen Konsequenzen daraus zogen?
Das Leben der Anna Wadle ist ein Lehrstück. In der Form eines großen, offenen Briefes an die Nachkommen der Überlebenden, wendet sich Anna Wadle direkt an ihre Leser. Dieser aufstörende offene Brief ist gleichzeitig ein historischer und politischer Bericht, welcher den leser und die Leserin als Adressaten nie aus den Augen verliert. Wer wissen will, „wie unser Leben und Kampf während des Faschismus war“, der sollte das Angebot Anna Wadles nutzen.
Sie beginnt 1916. Sie war sieben Jahre alt. Der Kaiser hat den Vater in den Krieg gejagt. Annas Mutter ist schwanger. Hunger ist für die Wadles in den Kriegsjahren tägliche, leidvolle Erfahrung. Mit zwölf Jahren muß Anna arbeiten, wie die meisten Kinder aus Arbeiterfamilien. Sie fliegt aus einer ihrer Stellungen, weil sie an einer Antikriegsdemonstration teilnahm. Es ist das Jahr 1928, Anna ist 17 Jahre alt. „Weil ich gegen den Krieg bin, hab ich die Arbeit verloren.“ So ihr Resümee dieser bitteren Erfahrung. Anna tritt dem Kommunistischen Jugendverband bei. Dort lernt sie den vier Jahre älteren Hein Wadle kennen, ihren späteren Mann. Da Anni, wie sie von ihren Freunden genannt wird, „kurz und klar schreiben kann“ - so die Genossen der 'Hamburger Volkszeitung‘ -, kam sie 1930 als Volotärin in die Redaktion des kommunistischen Blattes. Mit journalistischen Mitteln hilft Anna Wadle bei dem Versuch mit, eine Massenbewegung gegen die faschistische Diktatur zu mobilisieren. Nach der Machtübernahme arbeitet und lebt Anna im Untergrund, schreibt weiter, leistet Kurierdienste für den Widerstand und wird im September 1933 von der Gestapo verhaftet. Man will von ihr die Namen von Genossinnen und Genossen aus dem Widerstand. Anna schweigt. Sie wird physischer und psychischer Folter ausgesetzt. Da sie weiterhin schwieg, wurde ihre Mutter als Geisel genommen. „Wenn ich beantworte, was sie von mir wissen wollen, wenn ich das Protokoll unterschreibe, dann komme ich sofort frei, versprach er (ein Gestapomann, F.K.). Am Tisch mir gegenüber meine weinende Mutter: 'Ich muß doch wieder nach Haus, ich muß mich um die Wohnung kümmern und um Vater und die Jungs. Ich weiß nicht, wovon wir leben sollen, die Miete muß doch bezahlt werden.‘ Nur mühsam konnte ich sprechen.
Ja, ich wußte, was auf die Familien einstürzte, wenn die Gestapo zuschlug. Deshalb wollte ich verhindern, daß noch mehr Familien von dem Naziterror betroffen wurden, und ich habe geschwiegen. Die beiden Gestapoleute sparten nicht mit Beschimpfungen: 'Die eigene Mutter läßt sie im Gefängnis, und die Bonzen schützt sie!‘ Das war das Gelindeste, was sie mir vorwarfen.“
Anna dachte daran, dieser grauenvollen Erpressung durch Selbsttötung zu entkommen. Das Bewußtsein, daß ihre Mutter doch auch keine Verräterin als Tochter will, hielt sie schließlich davon ab. Sie trat in den Hungerstreik. Das bedeutete Einzelhaft im naßkalten Keller des Hamburger U -Gefängnisses. Ihre Mutter kam nach acht Tagen frei. Anna wurde wegen Hochverrats verurteilt. Der Todesstrafe entging sie durch den Zufall, daß ihre Verhaftung im September und nicht im Oktober 1933 erfolgte. Von da an galt die Todesstrafe für jegliche Beteiligung am Widerstand gegen Nazideutschland. Anna kam drei Jahre und sieben Monate in Schutzhaft. Auf eindringliche Weise beschrebt sie ihr Über -Leben im Knast und KZ, die Solidarität unter den gefangenen Frauen, die Angst vor Spitzeln, welche eine allgegenwärtige zusätzliche Gefahr waren.
Nach ihrer Entlassung im Jahre 1937 aus dem KZ Moringen, konnte Anna in einer Seifenfabrik Arbeit finden, ihr Mann arbeitete auf der Germaniawerft in Kiel. Sie hatten das Glück, eine Werkswohnung zu bekommen. 1939 freute sich das junge Paar auf ein Kind. Anfang Juli wurde Anna krank. Sie schleppte sich mühsam an einem Samstag mittag nach Hause. Eine Ärztin stellte die Gefahr einer drohenden Frühgeburt fest. „Ich mußte sofort zur Frauenklinik. Statt daß mit geholfen wurde, wurde ich wie ein Schwerverbrecher mit vielen Fragen bedrängt: 'Was haben sie damit gemacht? Sie wollten wohl abtreiben. Das werden wir schon feststellen!‘ In dem Ton wurde ich empfangen. Dabei waren die Hebammenschwestern schlimmer als die Ärzte, so, als würden sie Prämien dafür bekommen, wenn sie jemanden angeben konnten.“ Anna wurde von einem toten Jungen entbunden.
1942 flog die Bästlein-Jacob-Abshagen Widerstandsgruppe auf. Hein Wadle, der hier aktiv mitarbeitete, verschwand im KZ Fuhlsbüttel, bis zum Ende des Kriegs. 1943 wurde sie aus der Werkswohnung geworfen. Nach 1945 hörte die Erniedrigung nicht auf. Als Anna Wadle für einen Antrag auf Rente wegen erlittener Gesundheitsschäden durch Verfolgung um schriftliche Bestätigung bat, daß sie nach der Haft „in solch schlechtem Gesundheitszustand war“, da wird ihr erwidert: “'Ja, ja, ich weiß, ich hab Sie damals operiert, aber Frühgeburten hatten auch Frauen, die nicht im KZ waren.'“ Antrag abgewiesen. Aktendeckel zu.
Franz Koch
Anna Wadle: „Mutter, warum lachst du nie“, hrgs. von Loretta Walz, Huba Production 1988, 19,80 Mark
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