Leblose Einöde in Estland

■ Schwedische Umweltministerin berichtet nach Besuch über die katastrophale Umweltsituation in der baltischen Republik

Stockholm (taz) - „Die Umweltzerstörung im nordöstlichen Teil Estlands ist fast unvorstellbar.“ Dieses Fazit zog Schwedens Umweltministerium Birgitta Dahl, nachdem sie Teile der Sowjetrepublik besuchen konnte, die bislang für AusländerInnen verschlossen waren. Am schlimmsten sind die Auswirkungen des Ölschieferabbaus in gewaltigen Übertagebergwerken. Sie haben den gesamten nordöstlichen Teil Estlands zu einer fast leblosen Einöde gemacht. Der Ölschieferabbau ist um die Städte Narva und Kohtla Järvi konzentriert. Hier sind Seen, Bäche und Flüße umgekippt. Im Peipsisjön, dem größten See Estlands, darf nicht mehr gefischt werden. Jedes Jahr werden durch den Tagebau weiter acht bis zehn Quadratkilometer verwüstet, Rekultivierung nicht einmal versucht.

In Narva wird in zwei großen Kraftwerken der Ölschiefer verfeuert, um Energie zu erzeugen. Die 3.000-MW-Kraftwerke spucken seit zwei Jahrzehnten ohne Filter Jahr für Jahr fast 400.000 Tonnen Schwefel aus. Nach Dahl sind diese beiden Kraftwerke die viertgrößten Schwefelschleudern Europas.

Trotz alarmierender Berichte über die Umweltauswirkungen und über stark überdurchschnittliche Lungen- und Blutkrankheiten in dieser Gegend sind die Planungen für ein drittes großes Ölschieferkraftwerk abgeschlossen. Gleichzeitig soll die Kapazität der beiden alten Werke erhöht werden. Ob es tatsächlich zu einer Realisierung der Pläne kommt, ist fraglich geworden. Auf Druck der erstarkten Umweltbewegung hat sich Estlands höchster Sowjet kürzlich gegen eine Steigerung des Ölschieferabbaus und gegen einen Ausbau der Kraftwerke ausgesprochen.

Aber nicht nur Ölschiefer wird in Nordost-Estland im Tagebau gewonnen, sondern auch Phosphorit als Grundstoff für Düngemittel. Die Produktion soll bis zum Jahr 2000 verhundertfacht werden. Hierzu soll der Grundwasserspiegel um über 50 Meter, teilweise sogar bis 70 Meter gesenkt werden - eine Maßnahme mit bislang unerforschten Auswirkungen. Die Freisetzung von Schwermetallen und radioaktiven Stoffen würde sich drastisch erhöhen, kritisierte Ministerin Dahl.

Reinhard Wolff