: Das Winterloch eines Sommerparadieses
■ Wenn in Terracina zu Beginn der kalten Jahreszeit die Touristenschwärme ausbleiben, wird der filmberühmte Ort zu einem traditionsbewußten italienischen Städtchen
Das Winterloch
eines Sommerparadieses
Wenn in Terracina zu Beginn der kalten Jahreszeit die Touristenschwärme ausbleiben, wird der filmberühmte Ort zu einem traditionsbewußten italienischen Städtchen.
Ferien für stille Genießer empfehlen
WERNER und XENIA RAITH
m Moment hab ich keine Zeit“, brummt Franco von der Bar „Il Campanile“ und räumt den letzten blauen Liegestuhl Marke „Sommertraum“ in seinen Lagerraum, den er darauf fest verschließt, „aber wenn ich nicht bis acht Uhr fertig bin, kommen bei dem schönen Wetter doch noch Gäste und bereden mich dann wieder, ihnen einen Schirm aufzustellen oder die Espressomaschine anzuwerfen.“ Die ganze Nacht hat Franco mit seinen Helfern gewerkelt und alles abmontiert, was er im Mai für seine Gäste installiert hatte, von den Trennungsbarrieren zum weniger gepflegten Nachbarstrand bis zu den Duschen.
Für den „Campanile“ wie für weitere dreißig Lokale in Meeresnähe ist mit dem 1.Oktober die Saison vorbei, mag der Himmel noch so blau leuchten, das Wasser noch immer seine 24 bis 25Grad aufweisen. Mehr als zwei Drittel aller Geschäfte, Supermärkte, Metzgereien, Friseure, Bars und Restaurants an dem 16 Kilometer langen Küstenstreifen zwischen Terracina und San Felice Circeo in Süd-Latium machen nun für gut sieben Monate dicht. Aus dem Ameisenhaufen, an dem sich in „erfolgreichen“ Sommern an die 250.000 Menschen tummeln, wird ein Friedhof, denn die gut 45.000 Einwohner Terracinas leben nahezu ausschließlich in der Stadt selbst, deren römischer und mittelalterlicher Teil sich den Monte Giove hinaufzieht und deren Neustadt lediglich den Fuß des Berges bis zum Meer hin ausmacht. Und selbst dort sind die Häuser nahe der zwei Kilometer langen Strandpromenade von Mitte September bis Juni nahezu unbewohnt.
Terracina im Winter: Aus dem noch vor fünfundzwanzig Jahren regen Agrarzentrum hat der Fremdenverkehr eine schizophrene Siedlung gemacht, die zwei völlig entgegengesetzte Jahreszeiten durchlebt - und die sich noch immer nicht mit dieser (in anderen Gegenden wie denen an der Adria um Rimini und Cattolica oder am Gardasee längst akzeptierten) Realität so ganz abfinden will. Die Verlockung, in den drei Sommermonaten mit Hilfe einer kleinen Espressobar, eines Andenkenladens oder einer küstennahen Autowerkstatt bequem das zu verdienen, was man sonst durch ein Jahr Arbeit auf dem Feld zusammengekratzt hat, war in den sechziger Jahren übermächtig erschienen. Damals hatten sich, als das römische Nobelbad Ostia wegen Umweltverschmutzung geschlossen wurde, an die zehntausend Römer ihre Ferienbungalows auf die Düne zwischen San Felice und Terracina gebaut und den Tourismusboom eingeleitet. Von den rundum wohnenden und werkelnden dreieinhalbtausend Bauernfamilien sind heute nicht einmal mehr fünfhundert aktiv, der Rest hat sich, vor allem die jüngere Generation, dem neuen „Dienstleistungsgewerbe“ angeschlossen. Mehr als 1.300 selbständige Betriebe zählt die Stadt - von denen, nach Ansicht der lokalen Händlerorganisation Confcommencio, nicht einmal die Hälfte wirklich lebensfähig ist. Doch weil sie zäh weiterzuwursteln versuchen, gefährden sie mittlerweile auch noch die anderen, eigentlich gesunden Betriebe, weil sie ihnen spürbar Kunden wegnehmen.
ls Gerhard Polt vor zwei Jahren seinen Film Man spricht deutsch in Terracina ansiedelte und dem Ort - zu Unrecht eine recht verschmutzte Küste zuschrieb, war die Wirtschaft der Stadt aufgrund einiger tausend Buchungsstornierungen drauf und dran, vor die Hunde zu gehen. Da zudem der Strand durch die von der wilden (meist illegalen) Bebauung der Dünen geförderte Erosion immer knapper wurde, standen die Terracinesen vor der immer drängenderen Frage, wie das nun weitergehen soll: Wird der Touristenstrom bald ganz ausbleiben? Wird sich die Stadt entvölkern wie viele andere Orte in den nahen Abruzzen, wo man keinen Ersatz für die angestammten Tätigkeiten gefunden hat? Daß man nach fast drei Jahrzehnten unterlassener Feldbestellung nicht einfach zur Landwirtschaft zurückkehren kann, haben Versuche der letzten Jahre gezeigt. Die nicht mehr bearbeitete Erde ist verkarstet, und ein Großteil des Humus ist vom Wind weggetragen worden.
Natürlich sucht die Stadt mittlerweile den Strandschwund zu stoppen: Ein von der Regionalregierung gefördertes Pilotprojekt mit Kiessäcken hat bereits gute Ergebnisse gezeitigt, und seit das Umweltschutzschiff „Goletta verde“ gerade dem Küstenstreifen vor Terracina ausgezeichnete Wasserqualität bescheinigt hat, setzen die Stadtväter auf den Ökoboom und das Qualitätsbewußtsein vor allem der ausländischen, speziell der deutschen Touristen.
Dennoch hat Terracina-intern noch ein anderer Vorgang eingesetzt, der die Stadt auf Dauer wohl besser vor dem wirtschaftlichen wie kulturellen Verfall schützen könnte als alle Anstrengungen der Fremdenverkehrsämter: Schüchtern zunächst, mittlerweile aber immer deutlicher und entschlossener kramen vor allem die jüngeren Generationen in alten Traditionen, suchen sich auf das zu besinnen, was ihre Stadt noch bis in die Nachkriegszeit auch zu einer Gemeinschaft zusammengehalten hatte. Alte Stadtteil- und Kirchweihfeste, die man in den sechziger Jahren einfach aufgegeben hatte, wenn sie nicht gerade zur Sommersaison lagen und so touristisch-folkloristisch nutzbar waren, werden plötzlich wieder gefeiert. Der Stadtteil Borgo Hermada, wo seit der Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe in den dreißiger Jahren zahlreiche Familien aus dem Veneto angesiedelt wurden, feiert Anfang Oktober sein „Fest des Franz von Assisi“. Der Mercato di San Cesario ausgeschrieben zu Ehren des Stadtpatrons - im November entwickelt sich zum größten Trödel- und Haushaltswarenmarkt der gesamten Provinz. Selbst der lange Zeit völlig aufgegebene Karneval wird wieder gefeiert, im vergangenen Jahr bereits wie von alters her mit riesigen Pappmache -Puppen, die entweder Sagengestalten oder unverhüllte Bosheiten gegenüber den Politikern der Stadt darstellen.
Vereinigungen wie „Cultura e territorio “, dem Umwelt- wie dem Kulturschutz verpflichtet, haben die Stadt dazu gebracht, Begegnungsstätten für die Alten und die Jugendlichen zu schaffen. „Die Alten“, sagt Carmine di Capua von Cultura e territorio, „sind zum großen Teil ehemalige Bauern, die den Söhnen in die Stadt gefolgt sind und sich nun immer verlorener fühlen. Ihre Frauen trauen sich im Sommer oft nicht mehr auf die Straße, weil sie die einfallenden Touristen mit ihrer den Bäuerinnen oft anstößig erscheinenden Kleidung und dem oft wirklich rüpelhaften Benehmen scheuen. Die Jugendlichen sind zwar jeder Begegnung aufgeschlossen, stoßen aber bald an die Barriere, daß sich die Bekanntschaften mit den Urlaubern eben als sehr flüchtig erweisen und die sicher oft ausgesprochenen Einladungen zu einem Gegenbesuch meist nicht so ganz ernst gemeint sind.“
erracina hält inzwischen die Stadtparks auch im Winter geöffnet. Eine Reihe von Unterhaltungslokalen hat die Lizenz nur unter der Bedingung bekommen, daß ganzjährig offen ist. Puppentheater unterhalten die Schulkinder nun auch außerhalb der Saison.
Das macht sich nun auch auf eine Weise bezahlt, an die die Traditionswiedererwecker ursprünglich gar nicht gedacht hatten. Mehr und mehr siedeln sich nun ganzjährig Fremde an, speziell Deutsche, Schweizer und Schweden, ziehen so durch den Besuch von Freunden einen bescheidenen Fremdenverkehr das ganze Jahr hindurch nach sich. Eine Reihe von meist älteren Gästen kommt für den gesamten Winter nach Terracina. Manche mieten sich zu niedrigem Preis einen strandnahen Bungalow, machen stundenlange Spaziergänge den leeren Strand entlang oder im gleich hinter dem Ort beginnenden Gebirge.
Daß der Sommerrummel, für viele Urlauber freilich wesentlicher Bestandteil der „Erholung“, zur Winterszeit fehlt, nehmen die außersaisonalen Gäste nicht nur gerne in Kauf - es ist für sie regelrecht der Anreiz fürs Kommen. Daß die Wege zum nächsten Lebensmittelgeschäft weiter sind als sonst, daß man den Aperitif in einer landeinwärts gelegenen Bar einnehmen muß und daß sie die Spezialitäten mancher Restaurants wegen Schließung nicht kennenlernen, macht ihnen nichts aus. Denn im Unterschied zum Sommer kann man im Winter mit dem Barkeeper ein ausgedehntes Schwätzchen halten, in Italienisch, oft auch in Deutsch, vor allem aber mit Händen und Füßen. Und in den Geschäften bekommt man jetzt ausgiebige Beratung. Der Donnerstagsmarkt von Terracina, der Markt am Dienstag in San Felice Circeo oder der am Sonntag in Fondi ist nun nicht mehr von Touristen geprägt, die ständig die Preise herunterhandeln wollen dafür kostet alles im Winter sowieso um 20 bis 30Prozent weniger. Das milde, selbst zu Weihnachten kaum einmal frostige Klima macht Ausflüge zu den mächtigen Grotten von Pastena, zu den Abteien von Montecassino oder Fossanova, ins nur eine Stunde entfernte Rom oder nach Neapel sowieso viel angenehmer als in der Sommerhitze.
ranco vom „Campanile“ jedenfalls beginnt die neuen Zeichen auch allmählich zu erkennen. Vom nächsten Jahr an will er früher auf- und später zumachen als bisher: „Mal sehen, wenn die von der Stadtverwaltung die Chancen nicht verschlafen und ihrerseits durch Steueranreize eine längere Saison fördern“, könnte Terracina seine Probleme wahrscheinlich doch noch lösen: „Dann bekämen wir sozusagen drei Jahreszeiten: den Sommer, der nach wie vor überlaufen ist, dazu aber eine ruhige Vor- und Nachsaison - und eine Winterzeit, die uns wirklich zur Erholung und zum Regenerieren der eigenen sozialen Beziehungen dient - die aber auch wieder nicht so lang ist, daß wir aus Arbeitsmangel in eine totale kulturelle und wirtschaftliche Leere fallen.“
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