Gibt es die DDR überhaupt?

■ „Nicht nur meine Generation ist damit groß geworden, das Maß aller Dinge im Westen zu suchen. Auch das, was man Nationalgefühl nennt, verschwand wohl in diese Richtung“, sagt DDR-Bürger Schedlinski

Rainer Schedlinski

Enzensberger war es, wenn ich nicht irre, der schrieb: „Es gibt nichts Peinlicheres als einen DDR-Bürger.“ Franz Xaver Kroetz könnte man ähnlich zitieren und viele andere Besucher auch. Doch ich kenne niemanden, schon gar keinen hiesigen Autor, der diese Beobachtungen geordnet und mit Begriffen versehen hätte, die allgemein genug wären, sie in einer Wesensbeschreibung zu vereinen.

Auffallend ist nur, daß dieses Land ganz eigene, unvergleichliche Verhaltensmuster, Mentalitäten und Eigenschaften inspiriert hat, von denen eine gewisse Bitterkeit vielleicht die hervorstechendste ist. Psychologisierend würde ich vermuten, dieser allgemeine, nicht näher erforschbare, weil zur Gewohnheit gewordene Beigeschmack, den man allenthalben wahrnimmt, will in etwa bedeuten: Sie wissen doch, wo wir leben. Eine Art latenter Sabotage und Selbstverachtung für Verhaltensweisen, mit denen sich niemand identifizieren mag, obgleich er ihnen gerade dann zu verfallen scheint, wenn er sie von sich weist.

Wo die öffentliche Sprache in leeren Formeln erstarrt, verdankt man ihr eine Art Unberührbarkeit. Es ist, als spräche man nicht mit einem einzelnen Menschen, sondern immer gleich mit der Ordnung als solcher, und aus dieser Perspektive macht der einzelne seinerseits, geschult an der universellen Funktion des Überbaus, für jede Mißlichkeit den Staat im ganzen verantwortlich. Er muß, in diesen kasernierten Strukturen, den Dienstweg einhalten mit seiner Beschwerde, und wird dabei die Formen annehmen, denen er gerade entgehen wollte.

Man erkennt sich in der Geste, nicht erst in den Worten. Sie dienen weniger der Verständigung als dem Gesinnungsbekenntnis, sowohl in der frommen Erfüllung rhetorischer Pflichten als auch in dem ihnen abgetrotzten Schweigen. Die Floskeln aber doppelzüngig zu nennen, wäre das falsche Wort; Zynismus hätte einen höheren Bewußtseinsgrad. Eher sehe ich eine doppelte Sprachlosigkeit grassieren; es liegt noch ein Schweigen über dem Schweigen, und diese Sprachlosigkeit ist, wie ich denke, auch dem Einfluß der DDR-fremden Medien zu schulden, die dem Denken die Sprache entziehen, indem sie ihr die Worte stets vorwegnehmen. Selbst für die Mehrzahl der protestierenden Stimmen gibt es keine authentischere Sprache als die des Westens, und auch ein Teil der DDR-Enthüllungsliteratur wird aus westlichem Blick geschrieben. Wo die oppositionelle Sprache weithin mit der des Westens identisch ist, wird sie als eine Art verbotene Sprache identifiziert, und selbst wer kritisch über die staatlichen Stereotypen hinauszukommen sich bemüht, erkennt sich mitunter, gleich einem Selbststeller, in einer Sprache, die ihm nicht gehört und in der er nichts als sein bloßes Anderssein kommunizieren kann. Die stereotype Erkennbarkeit der Rhetorik, der staatsnahen wie der protestierenden, erfüllt Marginalisierungs- und Ausgrenzungsfunktionen. Die Rhetorik verrät die Gesinnung, und so gibt es das Gespräch allenfalls in Form eines Verhörs.

In Ländern, die von äußeren Sprachen verschont bleiben, in der Sowjetunion, Polen, Ungarn oder auch der CSSR, hat sich auch, oder vielleicht gerade weil der Opportunismus hier offenkundiger war, über die Jahre eine authentische Zweitsprache erhalten, die aus ihrer eigenen Reflektion hervorging und die die offizielle Sprache ergänzte. In der DDR, scheint es, denkt sich das Nichtoffizielle als die andere, verbotene Sprache in dialektischer Balance immer gleich mit und bedarf deshalb nicht mehr der eigenen Reflektion; der andere Gedanke ist immer schon schweigend präsent; man fällt stets auf sich selbst zurück, und kommt über ein Relativieren seiner Verhältnisse nicht hinaus. Selbst die Nachrichten beziehen sich oft auf ihr geheimes Gegenteil - nämlich auf die des Westens - und können daher nicht anders als synoptisch gelesen werden.

Alles, was die DDR verlautbart, verweist in leerer Negativität auf diesen zweiten, verschwiegenen, hintergründigen und manchmal eigentlichen Sinn, von dem sie sich in ihrem Sprechen abhebt, und der dennoch einen Teil ihrer Identität bestimmt. In dieser Halbheit und Ambivalenz ist sie gekennzeichnet, sie verkörpert darin die Figur eines gewissen Mangels, dessen Attribute immer auf etwas jenseits Liegendes verweisen, das sie allein von innen her nicht erfüllen kann. Die DDR hat also eine Summe von Eigenschaften, die ihr erst von außen her zukommen, um sie in ihrer Identität zu komplettieren, als bedeutete sie stets nur die halbe Wahrheit.

Alles in allem, in dem es sie also tatsächlich nicht gibt, scheint die DDR eine Fiktion und so willkürlich konstruiert wie die Bezirke, ungeachtet ihrer gewachsenen Strukturen. Jede Identität kann daher ihrerseits nur unvollständig, stiefmütterlich, abstrakt und fiktiv sein; eine ideologische, keine natürliche, allenfalls eine provinzielle.

Nicht nur meine Generation ist damit groß geworden, das Maß aller Dinge im Westen zu suchen. Auch das, was man Nationalgefühl nennt, verschwand wohl in diese Richtung. Vor Jahren schrieb ich, nach einem Besuch in Prag, die Zeilen: „Der Westen ist neben dem Osten zum praktischen Vergleich ausgestellt. Ein Sozialismus mit viel Ephiteta - wohl eine liebe Not. Die sozialistische Utopie konnte Wirklichkeit bleiben nur mit der Utopie westlicher Wirklichkeit vor Augen, als Farbchemie quasi homöopathisch und etwas kostspielig freilich, aber immerhin billiger noch, als der wirkliche Westen zu stehen gekommen wäre.“ Es war mir, obgleich ich die Tatsachen den Journalisten nicht verübeln kann, ausgesprochen peinlich, in den Flüchtlingsbefragungen der letzten Tage, wenn nach Motiven geforscht wurde, immer wieder zu hören: “...weil es nichts zu kaufen gab, ...weil wir keine Wohnung bekamen“ usw. Gewählt, sagten einige, haben sie, „weil man ja mußte“, um die FDJ „kam man nicht drumrum“, und einen Ausreiseantrag zu stellen haben manche sich „nicht getraut“.

Ich bin gewiß kein Freund der Jungdynamiker und Geschäftemacher, aber gesagt werden muß auch: Es kann woanders kaum einfacher sein als in der DDR, Reichtum und Besitz zu häufen. Es ist so heikel nicht, eine Wohnung zu besetzen, die man nicht bekommt oder, nichts leichter als das, die Bearbeitungsfrist eines Ausreiseantrags durch quasipolitische Aktivitäten erheblich zu beschleunigen. Das alles ist freilich nicht ganz konform und legal, aber so mordsgefährlich nun auch wieder nicht. Unselbständigkeit ist sicher keine karriereverdächtige Eigenschaft, aber offenbar sind so lammfromme Bürger sehr beliebt, und nach einer Umfrage würden über 60 Prozent CDU wählen.

Vielleicht klingen diese meine Worte überheblich, vielleicht ist es nicht jedermanns Sache, den sozialen Druck auf sich zu nehmen, den jedes abweichende Verhalten provoziert, und vielleicht mißachte ich auch die Ansprüche anderer, aber was mich bedrückt, ist, daß genau jene Mentalität, die nie Widerstand geleistet, ja die Protestierenden verlacht hat, jetzt Freiheiten beansprucht, die einzufordern sie nicht nur nicht bereit war, sondern anderen auch vergönnt hat, als sie beispielsweise die Polen beschimpfte, weil sie die Läden leerkauften. Sicher hat die DDR in ihrer Schrebergartenmentalität den Rückzug aufs Private honoriert und die Motive banalisiert. Freiheit und Menschenrechte wurden immer als rein physische Werte thematisiert, als Garantie auf Wohnung und Nahrung, wie wenn der Mensch nichts als ein Produktionsmittel wäre, das der Wartung bedürfe. Zweifellos ist dieser kleinkarierte Freiheits- und Wohlfahrtsbegriff nicht unschuldig am Werteverfall, der jetzt, wo gerade jene ausreisen, die immer pünktlich ihre Beiträge geleistet haben, so erschreckend sichtbar wird, daß die Befürchtung sich aufdrängt, die ohnehin schon reichlich ausgedünnten quasikirchlichen Umwelt - und Menschenrechtsgruppen seien die letzten und einzigen Idealisten, die einen ungebrochenen Glauben an dieses Land sich bewahrt haben. Es scheint, als gäbe es außer diesen keine oppositionelle Basis, außer vielleicht einer Partei der Ausreisewilligen. Denn die meisten derer, die in der Hoffnung auf Besserung bleiben wollen, schweigen, in der Furcht, selbst durch die politische Falltür in den Westen zu geraten, und für viele, die den Glauben an dieses Land gänzlich verloren haben, kritisieren selbst die entschiedensten Neuerer das System zu sehr von links.

Freilich ist mir nicht entgangen, daß unerfüllte Reise- und Versorgungswünsche Metaphern sind für eine Vielzahl anderer Entbehrungen, doch die gelegentlich einsilbig und achselzuckend vorgebrachten Unmündigkeitsbeschwerden klingen auch schon wieder wie Parteitagsparolen. Es wirkt auf eine für die DDR nicht untypische Weise schamlos, wenn ein KFZ -Meister, der keine eigene Werkstatt eröffnen konnte, nun als Politischer anerkannt werden will, angesichts der Flüchtigen in aller Welt, die ihr nacktes Leben retten. Aus fast allen Ländern müßten schließlich die Leute verschwinden, weil das Angebot anderswo besser ist. Der Wohlstandshunger aber scheint Grund genug, das Land zu wechseln, als sei die DDR nur die dürftigste deutsche Kaufhalle.

Die DDR, der jetzt nichts besseres einfällt, als daß es den Flüchtigen hier zu gut ging, hat den Wohlstand immer thematisiert, die eigenen Erfolge gelobt und die westlichen Gebrechen beanstandet, so lange, bis es die Leute geschluckt haben, nur eben genau andersrum. Sie hat allen Dingen das westliche Maß auferlegt, sie hat den Vergleich gewollt, nun muß sie ihn aushalten. Sie hat genau das gesagt, was sie verneinen wollte, und sich dabei wirksamer diskreditiert als jede westliche Propaganda es hätte tun können.

Es ist das Original, was sie der ewigen Nachahmung vorziehen, wenn die Leute nun die DDR verlassen, die seit Jahr und Tag nichts anderes tut, als den Westen vergleichsweise zur Alternative zu machen, anstatt ihre Identität in eigenen Werten zu suchen, die nur menschlichere sein könnten. Wenn es gelungen wäre, eine Identität zu stiften, die stark genug ist, den Konsumgedanken weniger aufzuwerten, hätte sie dem Westen eine ganz eigene Lebensqualität entgegenzuhalten. Doch gerade die Isolation, die Arroganz und Selbstherrlichkeit der Macht verliert den Vergleich.

Wenn es die DDR nicht nur als eine Art Westen mit anderen Mitteln geben soll, wenn sie Eigenschaften haben soll, deren Maßstäbe ihr selbst entwachsen, wird sie sich auf andere Werte besinnen müssen. Sie bedarf des moralischen Vorteils, um neben der Bundesrepublik existieren zu können, das ist ihre einzige Legitimation und die einzige Chance, der westlichen Eingemeindung, die in den Köpfen stattfindet, zu entgehen.

Ich bin gewiß nicht überglücklich in diesem Land, und ich spüre wie jeder DDR-Bürger, der Richtung Westen reisen darf, welche Beklemmung von mir fällt, wenn die Mauer hinter mir liegt; aber noch ein Deutsckland, so wie das bundesdeutsche, ein großdeutsches also, würde mir gänzlich die Hoffnung nehmen, daß aus diesem so tierisch ernsten und wohl verspanntesten aller Völker doch noch eines werden könnte, dem anzugehören mir nicht nur eine Not und Plage ist. Ich wüßte im übrigen nicht, weshalb man in dem größeren Haus, dem das Nebengelaß angeschlossen wurde, nun besser leben sollte. Und die westliche Hausordnung ist schon in Kraft, sie ist wie sie ist, man muß sie nicht noch einmal haben. Ich fürchte, gerade ihrer Unveränderbarkeit entwächst die autonome Gewalt, die ja, gemessen an ihrem Anspruch, ein Terror der Vernunft ist, in dem, wo nichts zu machen ist, die Mittel zum Zweck werden. In der DDR sehe ich eine Chance für das Experiment, ob Sozialismus - und vielleicht sogar Planwirtschaft - nicht doch funktionieren, wenn sie demokratisch legitimiert sind.

Und was die jetzt viel beschworene Wiedervereinigung angeht: Bis vor kurzem konnte ich beim besten Willen nicht nachvollziehen, was Leute meines Alters - oder gar noch jüngere - in der Bundesrepublik auf das Thema der Wiedervereinigung bringt. Was einen DDR-Bürger in der Tristheit seiner Kasernierung am Westen faszinierte, ist einleuchtend. Was aber konnte einen, der im farbenfrohen Westen aufgewachsen ist, an der DDR reizen? Was fehlte ihm an seinem Deutschland, das doch alles hatte?

Erst seit ich in letzter Zeit mehr und mehr auch in der DDR von jungen Leuten höre, daß sie deutsches Blut und deutsche Ehre in sich spürten, beginne ich zu ahnen, worum es geht. Fremd bleibt mir dieses völkische Naturell dennoch. Ich kenne keine typisch deutschen Attribute, die ich auf mich vereint haben möchte, und die geistigen oder moralischen Größen dieser Nation scheinen mir immer eher undeutsch.

Ich denke, auch die Mehrzahl der DDR-Bürger empfindet keinen Mangel an deutscher Identität, wohl aber an Weltbürgertum, und auch die Mehrzahl derer, die sich Veränderungen wünschen, denken dabei zuletzt an eine neue deutsche Ganzheitlichkeit; sie bedrückt nicht die abstrakte Topographie einer Landkarte, sondern der ganz existentielle Depressionszustand dieses Landes. Die Motive für den Mauerabriß sind hier also von denen im Westen sehr verschieden. Sollte sich die DDR eines Tages doch noch auf Reformen besinnen, die Macht vom Kopf auf die Füße stellen, den Menschen mehr Möglichkeiten eröffnen, die allgegenwärtige Staatlichkeit von ihnen nehmen, die Entfremdung, für die sie keine Sprache haben als die des Westens, sollte sie einen menschlicheren Umgang mit der Macht kultivieren, würde sich der ideologische Abstand zum Westen verringern, und die Wiedervereinigung wäre ebenso überflüssig wie etwa die mit Österreich. Entspannen sich die Verhältnisse, ist eine Wiedervereinigung unnötig, entspannen sie sich nicht, ist sie unmöglich. (September 1989)