: Bereit zur Verantwortung für deutsche Geschichte
Von der Befreiung beim Versuch, an der Geschichtsschuld mitzutragen / Von Martin Ahrends ■ E S S A Y
Merkwürdig - die Diskussion um die deutsche Spaltung, um deutsche Geschichte und Identität wird nahezu ausschließlich von denen geführt, die das, was vor dieser Spaltung war, bewußt erlebt haben. Und der Zankapfel heißt ganz folgerichtig „Wiedervereinigung“ - ein rückwärtsgewandter Begriff, der mir unbrauchbar erscheint, das zu bezeichnen, was fehlt. Was uns fehlt, die wir nach dem Kriegsende geboren wurden. Gleichwohl müssen wir uns in diese Debatte mischen, denn das Fehlende hat sehr wohl mit der andauernden Nachkriegssituation zu tun, mit der Tatsache, daß wir nicht mit uns vereinigt sind, nicht bei uns, daß wir uns fern sind und bestenfalls peinlich.
Mit dem Begriff der Wiedervereinigung können wir nichts anfangen, dazu reicht unser Lebensfaden nicht weit genug zurück. Aber die unerlösten deutschen Verhältnisse sind sehr wohl unser Thema. Unser Thema sind Projekte, die das private Weiterwursteln in Deutschland transzendieren. Denn wir werden in der Welt leben müssen, die das private Weiterwursteln hinterläßt.
Die Verteilung des Nachkriegswohlstandes erheischte keinen Idealismus: Realismus war gefragt in Wirtschaft und Politik. Die Wegstrecken des Verzichts, die nun vor uns liegen, brauchen aber die Vision dessen, was dieser Verzicht an neuer Lebensqualität einträgt. Den Idealismus derer, die um des Erhalts der Natur willen verzichten lernen müssen, auf das, woran sie schlicht gewöhnt sind, das ihnen selbstverständlich erscheint.
Konsumiert werden kann privat, verzichtet werden nicht. Denn jeder kann sich privatim fortmogeln - bis der Müllberg an die eigene Haustür reicht, ist's noch lang hin. Jede Art von Verantwortung jedoch ist auf eine Gemeinschaft angewiesen.
Wenn der Verbrauch schon der menschliche Lebenssinn ist (und im ökonomischen Kreislauf des Westens ist er es tatsächlich), wird es zum Verzicht niemals verbindliche Gründe geben. Diese Verbindlichkeit muß von jenseits des ökonomischen Kreislaufs herkommen: von den dringenden umweltpolitischen Aufgaben her, für deren Bewältigung ein aufs Private beschränktes Bewußtsein untauglich ist. Und ich behaupte, daß wir so etwas wie einen ökologischen Idealismus nur aufbringen, wenn wir ihn einander zutrauen. Aber leider: Wir trauen uns nicht, im doppelten Sinne - wir mißtrauen uns als Nation und bringen den Schneid nicht auf für politische Phantasie.
In der DDR hatte man dieses Wir-Gefühl gratis, wenn es auch vor allem aus der Repression herkam; zumindest „Wir-hinter -der-Mauer“ waren alle. (Totalitäre Staaten sind stets für ein flächendeckendes Wir-Gefühl gut.) Wir hatten durchaus nicht das Gefühl, aus unserer Geschichte entlassen, eher schon, darin eingesperrt zu sein; wir konnten zwar keine Geschichte mehr machen, büßten aber immerhin für die, die unsere Väter gemacht hatten. Was wir so mitbekamen, das war zwar kein deutliches Bewußtsein wofür, aber das deutliche Gefühl, daß wir zu büßen hatten. Wir wuchsen in einer Art Erziehungsanstalt auf, die deutsche Kommunisten für das Volk eingerichtet hatten, von dem sie sich verraten fühlten. Was tut man in einer solchen Büßerlage, wenn man nicht bloß dumm und teilnahmslos daran werden will? Wenn man sich nicht verkriechen will: durch einen Tunnel in den Westen oder ins Schlupfloch privater Existenz? Man sagt sich: Wenn wir schon verantwortlich gemacht werden im Namen der deutschen Geschichte, dann wollen wir es auch sein. Man suchte das Erbe auf sich zu nehmen - zum Teil recht unbeholfene Versuche: Man gab den Kindern jüdische Namen, man pilgerte zu den letzten jüdischen Friedhöfen, zur Synagoge in der Oranienburger Straße, man staunte plötzlich über das DR für Deutsche Reichsbahn, das einen alltäglich umgab, nachdem man es in einem Film über die Vernichtungslager wiedererkannt hatte. Man lief die Bahnstrecken ab, die sie in die Lager gefahren sein mußten, die Straßen, über die man sie in den letzten Kriegstagen getrieben hatte.
Das alles war ja keine FDJ-Pflichtübung, sondern ein Gegenan. Gegen die staatliche Doktrin an, daß wir unschuldig geboren seien, weil auf der „richtigen“ Seite der Mauer. Die Heimleitung unseres Erziehunsgheimes hatte ja allen Insassen kollektiven Ablaß von den Sünden der Nazi-Zeit versprochen, kraft ihrer moralischen Autorität als entschiedene Widersacher der Nazi-Diktatur von Anfang an. Wir entzogen uns also diesem Ablaßhandel, der unseren Aufenthalt in der Anstalt offiziell rechtfertigte, wir begaben uns bewußt in die Schuld der nichtkommunistischen Väter, wir fragten sie aus, wir suchten nach Kontinuität, wo unsere Heimleitung stets den historischen Bruch, die Stunde Null behauptete. Wir versuchen, die Geschichte auf uns zu nehmen, die uns die Heimleitung abgenommen hatte: Der Preis dieser Entlastung mochte den Vätern nicht zu hoch erschienen sein - uns war er entschieden zu hoch. Will sagen: Das DDR-Wir konnten wir nicht annehmen, wir wären unmündige Kinder geblieben. Die Mauer gab uns aber die Chance, ein anderes Wir zu entdecken, das tiefer in die Geschichte hineinreichte als die neue Anstalt - und also auch aus ihr (der Anstalt) wieder hinausführen konnte. Wir bestritten den alten Antifaschisten ihr Monopol auf Rechtschaffenheit vor der Geschichte, ihr Monopol auf Vergangenheitsbewältigung, und in der „Entdeckung“, daß die gemordeten Juden uns tagtäglich ebenso fehlten wie die gemordeten Antifaschisten, waren wir unserem Geschichtslehrbuch weit voraus. Das wichtigste aber war die Befreiung, die wir bei unseren Versuchen erlebten, an der Geschichtsschuld mitzutragen. Wir stiegen aus der Anstalt aus, indem wir versuchten, die alte Schuld auf uns zu nehmen und etwas Besseres daraus zu machen als eine neue Lektion in Duckmäusertum. Was aus der alten Schuld zu lernen war, mußte ja das genaue Gegenteil sein: sich nicht mehr vereinnahmen, nicht mehr verführen, nicht mehr opfern zu lassen. Diese anderen Lehren aus der Vergangenheit mußten dem politischen Alltag in der DDR früher oder später zuwiderlaufen, was früher oder später bedeutete, aus der Anstalt hinausgeeitert zu werden als Fremdkörper.
Was geblieben ist, auch im Westen, das ist ein Gefühl von Verantwortung, die man sich errungen hat wie eine Befreiung. Die nun zu einem dazugehört, die man nicht mehr so einfach abgeben und delegieren will, auch nicht an die hier zuständigen Parteien und Verbände und Medien.
Man kann nicht mehr zurückkriechen in die Hülle des politisch Verwalteten, auch wenn die Verwaltungsmechanismen hier weit demokratischer sind. Man hat ich zu sagen gelernt, als man wir zu sagen lernte. Und man sucht nach diesem Wir auch im Westen. Einem Wir, das immer noch aufbrechen will aus der Unmündigkeit, anstatt sich in die hiesigen Institutionen politischer Kultur zu schicken. Und man versucht immer noch, der Mauer einen Sinn zu geben als Sühnezeichen. Der Mauer, die sich von hier aus plötzlich so unbedeutend ausnimmt, an der von hier aus niemand auch nur gedanklich arbeitet, die von West her weit sicherer ist als von Ost.
Und es tauchen Visionen auf, die hier vielleicht noch realitätsfremder sind, als sie es drüben waren: hundert Paddelboote elbaufwärts, bis zur Quelle im Riesengebirge. Visionen politischer Aktionen, die drüben mangels Medien geboten schienen, die aber auch hier von den Medien nicht ersetzt werden können. Aktionen, die zeigen, daß wir da sind und bereit, Verantwortung für deutsche Geschichte zu übernehmen: nämlich vor allem für das, was davon noch zu erwarten ist, für die Elbe, in der man wieder baden kann, für die Stadt Halle, in der man wieder atmen kann, für West -Städte, in denen man lustwandeln und sich unterhalten kann, anstatt vor Autos auszureißen. Und so auch für eine gesellschaftliche Atmosphäre, in welcher es einem häufiger als heute widerfährt, von fremden Landsleuten verbindlich gegrüßt zu werden, die es ermöglicht, daß wir uns ohne Peinlichkeit in die Augen sehen können.
Martin Ahrends lebt seit dem Frühjahr 1984 im Westen und ist Autor des Buches „Mein Leben, Teil II“.
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