: Rezept für die DDR: Soziale Marktwirtschaft
■ Die AL lud zur Perspektivdebatte über die DDR ins Rathaus / Das Rezept für die Ökonomie im Osten lautet „Soziale Marktwirtschaft“
Der Titel der Veranstaltung klang anmaßend: 40 Jahre DDR, welche Reformen stehen an? So, als wüßten wir, oder zumindest die Gastgeberin AL, was gut ist für die drüben. Die Besetzung des Podiums versöhnte. „Ex-Zonis“ läßt man zumal in diesen Tagen - gerne darüber resümieren. Die Kluft zwischen Teilen des Publikums und dem Podium wurde im Laufe der Veranstaltung größer. Die einen pflegten ihre alten Leidenschaften, die anderen preschten mit Neuem, mit West -Bewährtem vor. Daß sich der - in der AL alte - Streit über die Haltung zur DDR überhaupt entzündete, war dem Vortrag des Ökonomen Gernot Schneider zu verdanken. Seine Vorstellung von der wirtschaftlichen Umgestaltung der DDR liegen in Richtung Sozialer Marktwirtschaft, einer Öffnung zu den Weltmärkten und der „sinnvollen“ Teilnahme an der internationalen Arbeitsteilung. Nicht nur die DDR, sondern alle Ostblockländer müßten sich einstellen auf die Dynamik des technischen Fortschritts; Leistung und Wettbewerb sollten über die Wirtschaft entscheiden. Daran, daß diese Art Transformation der Planwirtschaft in Marktwirtschaft soziale Konsequenzen haben würde, ließ Schneider keinen Zweifel. Eine staatliche Arbeitsplatzgarantie beispielsweise könne es dann nicht mehr geben.
Unter Arbeitnehmern müßte eine neue „Leistungshaltung“ im Sinne von Motivation und Kompetenz entstehen. Schneider zitierten den saarländischen Ministerpräsidenten Lafontaine: „Vitale Gesellschaften haben Gewinner und Verlierer.“ Gerade weil dieser Transformationsprozeß mit so hohen Belastungen und Opfern verbunden sei, meinte er weiter, müsse in der Gesellschaft zunächst ein politischer Konsens über diese Veränderungen hergestellt werden. Bei allen Überlegungen müsse man bedenken, daß der Osten nicht aus eigenem Antrieb über Reforen nachdenke. Der Osten habe den „Wettlauf der Systeme“ verloren.
So manchem der rund 150, die am Vorabend des 40.Jahrestages der DDR ins Rathaus Schöneberg gekommen waren, war nach diesem Vortrag nicht mehr klar, warum man aus der DDR nicht ein „elftes Bundesland der BRD“ machen sollte. Dirk Schneider, Ex-Pressesprecher der Partei, war denn auch „echt sauer“. Er habe nicht sein Leben lang gegen den Zynismus der Marktwirtschaft gekämpft, um jetzt der DDR Reformen westlichen Musters zu empfehlen. Damit setze er, wie die Regisseurin und Schriftstellerin Freya Klier meinte, „Ideologie gegen Sachkenntnis“.
Auch der Ökonom fühlte sich mißverstanden. Schließlich, so meinte er, sei auch das System der Markwirtschaft zu überprüfen. Die Reformen im Osten seien eine Chanche für den Westen. Eine soziale und ökologische Erneuerung stehe an, eine Reform der sozialen Marktwirtschaft. Über eine mögliche Reformfähigkeit der sozialistischen Planwirtschaft wurde nicht diskutiert. Selbst die „Ansätze“ in der DDR, die Angela Schäfers von der AL Kreuzberg gerne „rüberretten“ will, fanden keinen Anklang beim Podium. Freya Klier war es, die das zitierte Positivbeispiel des einheitlichen Schulsystems in der DDR mit Leben füllte. Nach einer Befragung von vielen Schülerinnen und Schülern im Jahr 1986 habe sie einen „Utopieverlust“ festgestellt. Es herrsche eine bedrückende Atmosphäre an den Schulen, die erzeugt werde durch eine über Generationen gefilterte Lehrerschaft. Den Jugendlichen fehle die Identifikation mit dem Sozialismus, die in den 50er und 60er Jahren noch durch lebendige Vorbilder möglich gewesen sei. Die Plätze in der DDR-Gesellschaft seien verteilt, und jeder, der hier von dem Recht auf Arbeit drüben rede, müsse sich fragen, ob er wirklich für sich akzeptieren würde, an den Platz gestellt zu werden, wo die Gesellschaft ihn brauche.
Irritiert und überrascht zeigte sich die stellvertretende Parlamentspräsidentin Hilde Schramm von der Tatsache, daß der Ökonom seine Perspektive der sozialen Marktwirtschaft für die DDR ernst meint. „Ich dachte, daß er provoziert“, meinte sie und wartete vergeblich auf die „Wendung“. Sie verwies auf Diskussionen im Westen, wo angesichts der ökologischen Krise gerade über dirigistische Maßnahmen gegenüber der Wirtschaft nachgedacht wird. Der technologische Fortschritt könne kein Maßstab zur Entwicklung der Weltwirtschaft sein. Die Technologie brauche Kriterien. Man müsse jetzt darüber nachdenken, wie man verhindern könne, „daß die drüben Fehler machen“.
Der AL-Abgeordnete Michael Cramer fand die Polarisierung in der Diskussion - realer Kapitalismus gegen einen utopischen Sozialismus - „langweilig“ und warf beiden Systemen vor, die ökologische Katastrophe nicht verhindert zu haben. Jetzt solle man endlich anfangen, nach vorne zu gucken. Ein gemeinsamer Nenner, auf den sich wahrscheinlich alle einigen können. Die Frage, wo vorne ist, wurde dann nicht mehr diskutiert.
bf
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen