: Die Hiergebliebenen sind nicht die Zufriedenen
■ Offener Brief von Gewerkschaftsmitgliedern im VEB Bergmann-Borsig in Berlin an den Vorsitzenden des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, Harry Tisch
Stellvertretend für den überwiegenden Teil von 480 Gewerkschaftsmitgliedern wenden wir Vertrauensleute und AGL -Funktionäre der AGL-TK (Technischer Bereich) des VEB Bergmann-Borsig, Berlin, uns mit diesem offenen Brief an Sie, um auf einige sich in letzter Zeit verschärfende Probleme in unserer Arbeit hinzuweisen. Wir tun das in der Überzeugung, daß Sie in Ihrer Eigenschaft als Vorsitzender des FDGB-Bundesvorstandes und Mitglied des Politbüros des ZK der SED Einfluß auf die Überwindung der im folgenden dargelegten Situation ausüben können.
Mit großer Aufmerksamkeit verfolgen wir Gewerkschaftsmitglieder die derzeitige politische Entwicklung in unserem Lande. Viele unserer Kollegen treten zunehmend kritisch auf und bekunden Befremden und Unzufriedenheit. Insbesondere stößt die offizielle Interpretation der politischen Realität und aktueller Geschehnisse durch die Massenmedien der DDR mehr als bisher auf Unverständnis. Es liegt auf der Hand, daß sich in einem derartigen Stimmungsklima Wettbewerbsmüdigkeit und nachlassende Leistungsbereitschaft breitmachen, wie es zum Beispiel bei der Plandiskussion 1990 zutage trat.
In Diskussionen ist eine nahezu einhellige Ablehnung der Art und Weise festzustellen, wie Presse, Rundfunk und Fernsehen tiefgreifende und die Werktätigen bewegende aktuelle politische Probleme abhandeln oder zum Teil verschweigen. Dabei wird in keiner Weise der Tatsache Rechnung getragen, daß es sich bei unseren Menschen um politisch urteilsfähige, mündige sozialistische Persönlichkeiten handelt, die einen Anspruch auf objektive Informationen haben.
Besonders kraß kommt im Zusammenhang mit der legalen und illegalen Ausreise vieler unserer Mitbürger in die BRD zum Ausdruck, wie weit Realität und Propaganda voneinander entfernt sind. Inzwischen sind auch aus unseren Reihen schmerzliche Verluste zu beklagen. Verlassen haben uns Menschen, die in unseren Schulen eine sozialistische Erziehung erhielten und die in unserem Land eine gesicherte Existenzgrundlage hatten.
Es trifft nicht im entferntesten die Überzeugung und Empfindungen der Mehrzahl unserer Kollegen, wenn die Medien nach peinlichem Schweigen nun den Versuch unternehmen, die Abkehr so vieler unserer Menschen ausschließlich als Machwerk des Klassengegners zu entlarven, bei dem diese DDR -Bürger nur Opfer oder Statisten sein sollen.
Wir sind auch nicht der Meinung, daß es nützlich ist, die Minderheit prozentual zu errechnen und im übrigen davon auszugehen, daß die Hiergebliebenen die Zufriedenen seien. Bei Anhalten dieser Situation werden über kurz oder lang schwerwiegende Folgen für viele Bereiche unserer Wirtschaft und das gesellschaftliche Leben eintreten. Wir halten es deshalb für dringend erforderlich, daß die wahren Gründe, die zum Weggang unserer Bürger führen, sorgfältig und ehrlich untersucht und diskutiert werden.
Einer der Gründe ist mit Sicherheit die unzureichende ökonomische Stärke der DDR und die gesamte daraus resultierende Palette an Restriktionen für unsere Menschen, ein anderer das gestörte Vertrauensverhältnis der Bevölkerung zum Staat un seiner führenden Partei.
Kollege Tisch, wir wenden uns an Sie, weil wir um die Entwicklung unseres Landes besorgt sind und nach Wegen suchen, weiteren Schaden abzuwenden. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie Ihre ganze Kraft und die Ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einsetzen, um den öffentlichen Dialog über dringend notwendige Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen einzuleiten und durchzusetzen. Dabei kommt nach unserer Überzeugung dem Einfluß der Gewerkschaft entscheidende Bedeutung zu. Wir müssen den Menschen neue Perspektiven bieten, die es ermöglichen, das bisher Erreichte auf der Basis wirklicher individueller Einflußnahme weiterzuentwickeln. Der Sozialismus muß zu einer neuen Attraktivität entfaltet werden, die alle motiviert, sich mit ihm zu identifizieren.
Wir und unsere Mitglieder wären Ihnen für eine baldige Antwort dankbar.
Berlin, den 29.9.1989
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