: Kein Weg führt zurück
Nach dem 7. Oktober ist vor dem XII. Parteitag ■ K O M M E N T A R
Wenn die Feierlichkeiten zum 40.Jahrestag etwas gezeigt haben, dann das überwältigende Bedürfnis der SED-Führung, in einer heilen Welt zu leben. Jene, die über das Schicksal des Landes entscheiden, nehmen Wirklichkeit auf eine besondere Weise wahr: Dort, wo andere schwarzsehen, sagen sie guten Gewissens „weiß“. Das Bewußtsein, das dem zugrunde liegt von seinen Trägern als „marxistisch-leninistische, wissenschaftliche Weltanschauung“ bezeichnet -, gestattet es, das Sollen für das Sein zu halten und die Welt in Gut und Böse, Freund und Feind einzuteilen. „Die Antikommunisten haben immer unrecht, wir, die Kommunisten, haben trotz mancher Fehler und Niederlagen immer recht.“ Diese Sentenz einer Beraterin Honeckers, kürzlich im 'Neuen Deutschland‘ als Kritik an der sowjetischen Stalinismusdebatte veröffentlicht, ist treffender Ausdruck eines Bewußtseins, das sich durch Erfahrungen nicht beirren läßt: Diejenigen, die die „Moskauer Prozesse“ als inszenierte Morde bezeichneten, hatten „unrecht“, weil sie „Antikommunisten“ waren. Diejenigen, die diese Morde organisierten und propagandistisch verwerteten, hatten „recht“, weil sie eben „Kommunisten“ waren, obwohl da wohl ein „Fehler“ begangen wurde. „Die Partei, die hat immer recht...“, singen sie heute noch voller Inbrunst in dem Bewußtsein, wenn schon nicht das real existierende Volk, so doch „die Geschichte“ auf ihrer Seite zu haben.
Der demokratische Aufbruch in den sozialistischen Ländern ist aus dieser Perspektive nur durch Ränke des „Klassenfeindes“ und dadurch bedingte „Verwirrung“ in den eigenen Reihen zu verstehen. Die DDR betrachten sie als Kampfposten an vorderster Front. Sie kennen keine Fluchtwelle, sondern nur tückische „Abwerbung“. Unzufriedenheit im eigenen Land wird, so meinen sie, vor allem von außen, durch die „Westsender“ und unfaire Vergleiche mit der BRD geschürt.
Sie waren so fasziniert von ihrer seit langem geplanten Jubelfeier, daß sie glaubten, auch die Neider im Westen könnten an nichts anderes mehr denken und wollten ihnen das Fest versauen. In grotesker, aber für das System typischer Fehleinschätzung interpretierten sie die negative Aufmerksamkeit, die ihr Staat in den letzten Wochen und Monaten erfährt, als das Ergebnis einer geplanten „Verleumdungskampagne“. Die war - so Honecker in seiner Festansprache - selbstverständlich „international koordiniert“.
Honecker hat - so berichtet die DDR-Nachrichtenagentur 'adn‘ - seinem Gast Gorbatschow erzählt, „daß westliche Rundfunkstationen die Berliner zum Aufstand aufgerufen hatten“. Angesichts der berechtigten und vielfach geäußerten Angst fast aller westlicher Beobachter, daß massenhafter, gewalttätiger Protest zu einer politischen Katastrophe führen müßte, ist das eine beeindruckende Verdrehung. Beeindruckend deshalb, weil sie Aufschluß gibt über das Denken der SED-Führung. Ihre Schlüsselerfahrung in dieser Beziehung ist der 17.Juni 1953. Da sie eine kritische Aufarbeitung dieses Bruchs in der DDR-Entwicklung immer unterbunden hat, glaubt sie wohl heute noch an ihre eigene, damalige Sicht der Ereignisse: eine Eskalation von Unzufriedenheit durch die Einwirkung westlicher „Provokateure“. Deshalb wurden die Grenzen nach West-Berlin in diesen Tagen dichtgemacht. Daß es zu keinen Unruhen kam, wird das Politbüro wahrscheinlich als Beleg für die Richtigkeit seiner getroffenen Maßnahmen betrachten. Geschlossene Denksysteme bestätigen sich immer selbst.
Die Partei- und Staatsführung der SED möchte so weitermachen wie gehabt, nun unter der Parole „Vorwärts zum XII.Parteitag!“. Ihr Problem ist, daß gegenwärtig keine Handlungsalternative erkennbar ist, deren Folgen für sie tatsächlich kalkulierbar wären. Denkbar sind fünf Möglichkeiten: erstens, weiterzumachen wie bisher. Das aber wäre faktisch eine Kurskorrektur, denn es würde bedeuten, eine Politik fortzusetzen, die bisher offenkundig nur darauf ausgerichtet war, die Jubelfeier zu retten: größere Nachgiebigkeit gegenüber Ausreiseforderungen und - gewiß begrenzte - Zurückhaltung gegenüber einer ständig wachsenden und sich organisierenden Opposition. So weiterzumachen und doch nichts zu ändern wäre für einige Monate möglich, aber der Ruf nach Veränderung aus der Gesellschaft heraus würde lauter werden, die politische Stagnationskrise sich vertiefen. Zweitens könnte versucht werden, „Ruhe und Ordnung“ durch selektive Repression mit in Monaten gezählten Haftstrafen für einzelne Aktivisten wiederherzustellen. Das aber würde wahrscheinlich nur zur Solidarisierung und zur Mobilisierung der Opposition führen, das Ziel Einschüchterung aber verfehlen. Das Ergebnis wäre ähnlich der ersten Variante, nur die Verbitterung größer, die Lage deshalb noch schwerer kalkulierbar. Dritte Möglichkeit: Die Feier ist vorbei, jetzt folgt die Repression. Die Ende letzter Woche in der 'Leipziger Volkszeitung‘ veröffentlichte Forderung, „mit der Waffe“ gegen die Bürgerrechtler vorzugehen, hat auf diese Möglichkeit ebenso vorbereitet wie das nun schon Monate andauernde Kokettieren mit dem Pekinger Massaker. Es ist allerdings kaum vorstellbar, daß die SED-Führung der Meinung ist, sie könnte die Folgen einer solchen Politik kalkulieren. Sie müßte vorgehen nicht nur gegen die Oppositionsgruppen, sondern mittlerweile gegen fast die gesamte künstlerische Intelligenz, gegen die evangelische Kirche und mittlerweile selbst gegen einzelne Betriebsgewerkschaftsgruppen, gegen Grundeinheiten der Partei, der anderen „Blockparteien“, der Deutsch-Sowjetischen Freundschaftsgesellschaft wie auch einzelne FDJ-Hochschulgruppen. Auf Randbereiche einzuschlagen genügt nicht mehr. Selbst bei einem kurzfristigen polizeilichen Erfolg wären die innergesellschaftlichen und die internationalen Folgen für die DDR verheerend. Die vierte Möglichkeit bestünde in einem schrittweisen Übergang zu einer moderaten Reformpolitik. Ihre Kernelemente könnten sein: Verjüngung der Führung durch eine Beschränkung Honeckers auf das repräsentative Amt des Staatsratsvorsitzenden und die Wahl eines Generalsekretärs aus der „jüngeren“ Generation. Der neue Mann müßte Zeichen setzen, mit denen auf die dringlichsten Probleme eine erste Antwort gegeben würde: Formalisierung von Reisemöglichkeiten für alle; Erleichterung der Ausreise; Zulassung jener Meinungsvielfalt, die bisher unterdrückt in den DDR-Medien schon existiert, und damit kontrollierte, aber begrenzt kritische Diskussion über die bestehenden Probleme und ihre Ursachen, über Lösungsmöglichkeiten und Perspektiven. Eine fünfte Variante, ein radikaler Reformer an der Spitze von Partei und Staat, ist so unwahrscheinlich, daß sich zu spekulieren nicht lohnt.
Bei keiner dieser Varianten sind die Folgen wirklich kalkulierbar, und keine bietet bereits eine Antwort mit längerfristiger Perspektive. Doch eine solche Perspektive könnte auch nur im Dialog der Gesellschaft und mit der Gesellschaft gefunden werden. Jetzt gilt es, bestenfalls die politischen Voraussetzungen dafür zu schaffen. Zudem brauchen alle Seiten - der Parteistaat wie seine Kritiker für die Erarbeitung von Perspektiven auch Zeit. Die Regierenden können die Entwicklung nur wieder kalkulierbarer machen, wenn sie zulassen, daß sich aus dem gesellschaftlichen Protest Sprecher und glaubwürdige Vermittler herauskristallisieren.
Die SED-Führung entscheidet nicht allein über die Zukunft des Landes. Nicht nur die Gesellschaft mischt sich zunehmend ein, sondern natürlich spielen auch äußere Bedingungen eine Rolle. Wenn Gorbatschow im Ostberliner Palast der Republik postulierte, „daß die Fragen, die die DDR betreffen, nicht in Moskau, sondern in Berlin entschieden werden“, so ist das ernster zu nehmen, als wenn einer seiner Vorgänger das gesagt hätte. Doch auch wenn es keinen Ukas aus Moskau mehr gibt, an der Setzung der Rahmenbedingungen für die „Berliner“ Entscheidungen wirkt er selbst tatkräftig mit. Gewiß hat die sowjetische Führung ausgeprägtes Interesse an wirtschaftlicher und politischer Stabilität der DDR. Es fragt sich nur, wie die aus ihrer Sicht zu garantieren ist. Gorbatschow hat seine Position dazu in Berlin relativ deutlich gemacht. Journalisten erklärte er, „Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren“. Seine Grußansprache zielte mit der These von der „Modernisierung im gesamten sozialistischen Lager“ auf die Unterstützung einer moderaten Reformpolitik. Auch wenn die sowjetischen Reformer in der DDR nichts „forcieren“ wollen, darf man daran zweifeln, daß sie eine scharfe repressive Wende einfach hinnehmen würden.
Sowjetische Reformer behaupten, direkte Parteinahme wäre „kontraproduktiv“. Auf westlicher Seite scheint es da kein Problembewußtsein hinsichtlich der eigenen Bemühungen zu geben. Man fragt sich, welches Politikverständnis - außer einer vagen Erinnerung an den Marschall-Plan - in dem lauthals gemachten Angebot: Geld gegen Reformen, zum Ausdruck kommt. Je nach Tonlage ist es eine Aufforderung zur Kapitulation oder zur Korruption. Reformpolitisch sind beide Varianten schädlich und nur dazu geeignet, reformwillige Kräfte in der SED zu kompromittieren. Wären solche Angebote gutgemeint, dann würden sie gegenwärtig zumindest mit äußerster Diskretion vorgebracht.
Dieses Beispiel zeigt zugleich, wo ein Beitrag von bundesdeutscher Seite tatsächlich liegen könnte: Es müßte damit aufgehört werden, Außenpolitik gegenüber der DDR allein als bundesdeutsche Innenpolitik zu betreiben. Die bundesdeutsche Politik müßte nicht nur ihr Verhältnis zur DDR, sondern vor allem zum eigenen Staat verändern, ihn nicht länger als Provisorium betrachten.
Walter Süß
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