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Eine Chance für die Philharmonie

■ Der designierte Karajan-Nachfolger Claudio Abbado ist gut fürs Geschäft, aber auch für neue Töne

Mit ihm hatte keiner gerechnet. Beim Medien-Ratespiel vor der streng geheimen und ersten volldemokratischen Wahl der Berliner Philharmoniker am Sonntag wurde sein Name höchstens am Rande genannt: Schließlich ist Claudio Abbado, Chef der Wiener Staatsoper und Leiter gleich zweier internationaler Jugendorchester, ein vielbeschäftigter Mann. Ob er die Wahl wirklich annimmt, ob diese Ämter sich vereinbaren lassen, steht denn auch keineswegs fest: Erst mal muß der Senat verhandeln.

Immerhin ist das Ergebnis der sechsstündigen Wahlprozedur zu verstehen als deutliche Abfuhr an Kandidaten wie James Levine und deren Profitträchtigkeit: Erst letzte Woche flog auf, daß Levines Agentur für eine Europa-Tournee mit den Philharmonikern pro Konzert bis zu 250.000 Mark verlangt hatte. Andererseits lassen sich auch mit Abbado gut Geschäfte machen: Auch er ist bei CAMI, mit der Karajan seine Geschäfte machte, unter Vertrag und spielt zusammen mit den Philharmonikern fleißig das Repertoire bei der 'Deutschen Grammophon‘ ein. Als Chef der Wiener und der Berliner wäre er einer der mächtigsten der E-Musikwelt.

Für Abbado, den „Danseur Noble“'spricht dennoch vieles. Das letzte Mal sah ich ihn im August 1988 mit dem Europäischen Jugendorchester mit Schönbergs Gurreliedern. Nach den grotesk-gespenstischen Szenen vom König Waldemar, der vor Liebeskummer nicht sterben kann und mit seinen Mannen als Geisterheer durchs Land zieht, nach den nervzerreißenden Piccolotönen und quälend gestopften Blechbläserklängen stand Abbado am Ende da: kreidebleich und selber Gespenst. „Man nimmt es ihm ab, wenn die Musik ihn fertigmacht, und das gibt es nicht oft bei Dirigenten“, meint eines der Mitglieder des Jugendorchesters, Abbado-Fan wie viele seiner Kollegen.

Abbados Liebe zu den Jüngeren, die dem High-Fidelity -Einheitssound noch am ehesten andere Töne entgegensetzen, korrespondiert mit seinem Engagement für die Musik des 20. Jahrhunderts. Der 56jährige Italiener ist Schüler eines Schönberg-Schülers, ging in den siebziger Jahren zusammen mit Luigi Nono und Maurizio Pollini in die Fabriken der Reggio Emilia, um „die Arbeiter an die Musik heranzuführen“, und trat - als langjähriger Chefdirigent der Mailänder Scala - an mit dem Versprechen, „dem bürgerlichen Publikum beizubringen, daß die Musik nicht bei Puccini endet“. In die Wiener Staatsoper (seit 1986) holt er sich Regisseure wie Harry Kupfer und Alfred Kirchner, kümmert sich um Berg und Janacek. Zusätzlich gründete er das Festival „Wien modern“: Dank Abbado gibt es im altehrwürdigen Wiener Musikverein neuerdings auch Ligeti, Boulez und Nono zu hören.

Bleibt zu hoffen, daß Abbado, falls er keinen Rückzieher macht, trotz seiner engen Bindung an die Agenturen dem Zirkus Karajani neue Nummern abtrotzt und daß die Entscheidung der Musiker tatsächlich vom Willen zur Änderung getragen war. Eine Chance für die Philharmonie: Der ebenfalls neuzubestimmende Intendant - Hans Georg Schäfer geht Ende des Monats - wird sie nutzen müssen.

chp

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