Zwischen Chip und Zen

■ Bei Insel erscheint eine „Japanische Bibliothek“

Es genügt, einige Zahlen zu nennen: 20.000 japanischen Studenten in Westdeutschland stehen ganze 500 deutsche in Japan gegenüber. Auf sieben deutsche Lehrstühle für Japanologie kommt ein Vielfaches an japanischen Germanisten. Goethes Werther zum Beispiel haben nicht weniger als 27 Übersetzer in 62 Auflagen herausgebracht. Fünf Goethegesamtausgaben sind erschienen. Und während in Japan pro Jahr etwa 400 Übersetzungen von deutschen Schriftstellern auf den Markt kommen, brachte die Bundesrepublik, nach Unesco-Angaben das größte Übersetzerland der Welt, es bis vor kurzem auf ganze 15, und die zumeist noch nach englischen Vorübersetzungen.

Höchst begrüßenswert also, daß sich bei uns die Signale für einen Wandel mehren. Das Schwerpunktthema der Frankfurter Buchmesse 1990 wird Japan sein. Und in ihrem Vorfeld ist bei Insel mit den ersten vier Bänden einer Japanischen Bibliotkek auch schon ein großangelegtes, in editorischer Hinsicht sehr respektables Projekt begonnen worden. Die Übersetzungen gehen - selbst bei den entlegeneren Texten - prinzipiell auf die Originale zurück. Ausführliche Kommentare bieten die verständnisnotwendigen biographischen und literaturgeschichtlichen Zusatzinformationen.

Der Eröffnungsband stellt unter dem Titel Im Umbau elf Erzählungen von Mori Ogai vor. Eine Anmerkung dazu am Rande: Die bei Insel beibehaltene japanische Namensgebung stellt den Familiennamen voran - das Individuum marschiert erst im zweiten Glied.

Mori Ogai ist zweifellos eine Zentralfigur der japanisch -deutschen Begegnung im ausgehenden 19. und beginnenden 20.Jahrhundert. Von 1884 bis 1888 hat er im wilhelminischen Deutschland Medizin und Naturwissenschaften studiert. Danach ist er bis zum Generalarzt der japanischen Armee aufgestiegen. Doch diese Karriere ging keineswegs mit soldatischen Sensibilitätsverlusten einher. Auch als Militär, selbst wo er in die militante Samuraitradition zurückzulenken schien, hat Mori Ogai etwas von einem Querdenker und Querschreiber behalten - unüberhörbar in der Erzählung Das letzte Wort der bittere Satz: „Die Obrigkeit macht keine Fehler.“ Autoren wie Wedekind und Schnitzler hat Mori Ogai ebenso übersetzt wie etwa Strindberg oder Wilde. Und auch in der Philosophie - bei Schopenhauer und Nietzsche, Eduard von Hartmann und Philipp Mainländer - war er durchaus nicht bei den Jasagern, den Positiven zu Hause.

Die oft ins Essayistische gehenden Erzählungen zeigen ohne falsche Scham einiges von der erstaunlichen Belesenheit dieses bedeutenden Intellektuellen der japanischen Moderne. Trotzdem ist hier keine nervtötende Bildungsdichtung zu befürchten. Eher irritierend für den heutigen Leser ist der melodramatische Zug, der besonders die frühen Erzählungen bestimmt, unter ihnen der autobiographische Text Die Tänzerin: die erste Icherzählung der neueren japanischen Literatur. In der obsessiven Variation von Mori Ogais lebensgeschichtlichem Trauma, einer scheiternden Liebesbeziehung zu einer Deutschen, meldet sich so etwas wie ein „japanischer Werther“ zu Wort. Doch es ist wohl die Frage, ob eine Personalunion dieser Art mehr als eine Mesalliance sein kann.

Immerhin garantiert schon das hochsymbolische Sujet - die bleibende Fremdheit der Kulturen - ein hinreichendes Maß gefühligkeitsverhindernder Dissonanzen. Im übrigen sorgen Mori Ogais stilistische Qualitäten - die Verbindung von Spannungselementen mit nüchterner Beobachtung und der traditionellen japanischen Kunst der Verknappung, einer Ästhetik der Kargheit - dafür, daß die Konturen nicht in Tränenmeeren verschwinden. Der umwerfende Witz respektloser Zenpatriarchen wie in der späten Erzählung Hanshan und Shide ist ohnehin für das Gegenteil gut.

Um dieselbe Zeit, in der Mori Ogai, kenntnisreich dilettierend, neuere europäische Denkbewegungen in sein Werk zu integrieren sucht, stellt Nishida Kitaro die Verbindung zur professionellen westlichen, vor allem zur deutschen Philosophie her. Seine Abhandlung Über das Gute von 1911 - der erste und bisher einzige philosophische Band der Japanischen Bibliothek - bietet gerade aufgrund seiner unerschrockenen Eklektik wegweisende Lösungen, zum Beispiel in der Fortführung der buddhistischen und der Schopenhauerschen Mitleidsethik, die Nishida, unbekümmert um alle Vorurteile gegen sogenannte „Gefühlsethiken“, als Einheit von Liebe und Wissen begreift. Und spätestens an diesem Punkt weiß auch der Leser, daß er keinen bloß gutgemeinten moralistischen Traktat, sondern eine „Philosophie der reinen Erfahrung“ vor sich hat. Wer hier aus dem Osten das Heil erwartet, wie es modisch sein mag, stellt alsbald fest, daß ihm eben dort niemand, kein erleuchteter Buddha und kein rettender Gott, die Last der Selbstbefreiung nimmt.

Wieder auf vertrauteres Terrain führt die Sammlung japanischer Nachkriegslyrik zurück, die der erste Gedichtband der Bibliothek unter dem Titel Mensch auf der Brücke bietet. An die von der Zentradition inspirierte Haiku- und Tankapoesie erinnert hier freilich fast nichts mehr - eher fast alles an die Erfahrungen, die Günther Anders in seinem titelgleichen Tagebuch aus Hiroshima und Nagasaki beschrieben hat.

14 Autoren der beiden wichtigsten Dichterzirkel der Nachkriegszeit sind hier in durchweg bemerkenswerten Übertragungen vertreten - bemerkenswert auch deswegen, weil die deutschen Versionen über Jahre hinweg in Lehrveranstaltungen der Universität Zürich gemeinsam von Studenten und Dozenten erarbeitet wurden. Die Dichter des Arechikreises, nach T.S. Eliots Waste Land so benannt, haben versucht, die existentielle Wüste ihres Landes nach der Zerstörung von 1945 lyrisch zu vergegenwärtigen - und zu überwinden. Die später gegründete Rettogruppe hingegen hat sich an einer politisch engagierten Literatur orientiert. Wohlgemeinte Plattheiten hier, existentialistische Lamenti dort liegen den Retto- und Arechidichtern manchmal nicht fern. Etliche glückliche Beispiele zeigen aber, daß in beiden Fällen keine konstitutiven Mängel zu diagnostizieren sind. Aus Kuroda Saburos lakonischem Arechi-Gedicht Warten:

Warten

warten

warten.

Warten auf was?

warten

bis man nicht mehr weiß worauf.

Nur warten

warten

bis man vergessen hat worauf.

Aber sonst

was gibt es sonst als warten...“

Der „Guerilla in der Phantasie“ des Rettodichters Kuroda Kio wiederum ist skeptisch und selbstironisch genug, um kein politischer Missionar zu sein.

Schon mehrere Tage bin ich nun marschiert mit dem Geweh

...Aber die Waffe ist zu leicht

Ach ein Irrtum

Halte ich nicht bloß einen drei Ellen langen Stock in der Hand

Der Arechidichter Miyoshi Toyoichiro schließlich zeigt mit seinem provokativ zynischen Hiroschimagedicht Himmel, daß Existenz- und Engagementslyrik ohnehin keine Gegensätze sein müssen:

Für die Menschen

durch die Menschen

mit den Menschen

im Namen der Menschen

durchbohrte der Lichtstrahl die Menschen.

Der engagierten Literatur ist schließlich auch die erste Romanpublikation der Japanischen Bibliothek verpflichtet: Shimazaki Tosons Ausgestoßen von 1906. Dieses wirklichkeitsgeschichtliche, außerordentlich einflußreiche Werk ist für deutsche Leser von besonderem Interesse, denn Shimazaki setzt sich darin mit der entwürdigenden Rolle auseinander, die den sogenannten „Eta“, den „Unreinen“, den „Leuten aus dem Ghetto“, euphemistisch gesagt: den „Neubürgern“, von der traditionsgeleiteten japanischen Gesellschaft oktroyiert wurde - gelegentlich ist das hinter der Fassade der Gleichheit auch heute noch der Fall. Der empörende Zynismus sozialer Ausgrenzungen hat diese japanischen Parias gar als „Hinin“, als „Nichtmenschen“, klassifiziert, die einem Gerichtsurteil von 1859 zufolge gerade ein Siebtel eines „richtigen Menschen“ wert waren.

In der seltenen Form eines analytischen Romans, der gleichwohl größte Spannungsgrade erreicht, läßt Shimazaki seinen Helden zu einer „Eta„-Identität finden. Melodramatische Zuspitzungen bleiben dabei nicht aus. Ein Ensemble bösewichtiger Intriganten und vorbildlicher Idealfiguren sorgt für schönste Schwarzweißverhältnisse. Außerdem ist die Verbindung naturalistischer Stilformen in der Tradition von Dostojewskis Schuld und Sühne mit rousseauistisch gefärbten Bekenntnissen nicht eben leicht zu rezipieren. Trotzdem ist diese Art von sozial engagierter Gebrauchsliteratur ganz und gar unverächtlich. Und vielleicht kann dieses rare Exempel eines japanischen Naturalismus bei uns sogar dafür sorgen, daß die liebgewordene Gleichung von „Japonismus“ und Ästhetizismus wenigstens etwas in Frage gestellt wird.

Vier Bände aus vier verschiedenen Bereichen der japanischen Moderne also, die unsere Vorurteile produktiv stören können. Durchweg lesenswerte Bände, obwohl keine Jahrhundertwerke und auch keine Bestsellergaranten. Ein Risikounternehmen wird die Japanische Bibliothek vermutlich in jedem Fall bleiben.

Damit freilich wird sie nur dem drastischen Bild gerecht, mit dem Nishida Kitaro den Versuch umschreibt, inmitten der wirren Wirklichkeit durch Bewußtseinsveränderungen neue Realitäten zu „setzen“: „Auf dem offenen Meer ein Floß bauen“ - das ist nun einmal schwierig. Doch wenn die Alternative ist, sich weiter an die bewährte Mond- und Kirschblütenpoesie zu halten, dann gilt wohl eher die Empfehlung, die Hagiwara Sakutaro zu Beginn der modernen japanischen Lyrik gegeben hat: „Tsuki ni hoeru“ - man belle den Mond an!

Ludger Lütkehaus

Mori Ogai, Im Umbau, Insel-Verlag, 200 Seiten, 32 DM;

Nishida Kitaro, Über das Gute, Insel-Verlag, 220 Seiten, 32 DM;

Mensch auf der Brücke, Gedichte, Insel-Verlag, 200 Seiten, 32 DM;

Shimazaki Toson, Ausgestoßen, Insel-Verlag, 310 Seiten, 38 DM