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Lokal lesen, global schreiben?

■ Mit 'Neuer Zeitung‘ ins nächste Jahrtausend? / Heute erscheint Nullnummer der 'Neuen Zeitung Berlin West‘ / Ab 1.Dezember wird SEW-Organ 'Die Wahrheit‘ eingestellt / Die 'NZ‘ soll Zeitung für demokratischen Dialog werden

Sie haben sich viel vorgenommen: „Das Blatt in dieser Stadt“ soll es werden, „das dem Dialog um die lokalen und globalen Fragen in seinen Spalten Raum gibt“. Die Zeitungslandschaft West-Berlins wird mit einem neuen publizistischen Produkt bereichert: Am heutigen Samstag erscheint die Nullnummer der 'Neuen Zeitung Berlin West‘, die ab 1.Dezember das SEW-Organ 'Die Wahrheit‘ ablösen soll. Vorbereitet wird das ganze Unternehmen in zwei eher bescheiden ausgestatteten Kellerräumen, drei Stockwerke unter den Redaktionsräumen der 'Wahrheit‘ in der Moabiter Kaiserin-Augusta-Allee.

Von Hektik war gestern gegen Mittag noch nicht sehr viel zu spüren. „Die bricht erst gegen Abend aus“, meint Günther Bahr, verantwortlicher Redakteur für die Nullnummer. Er ist altes SEW-Mitglied, war in den Jahren 1958 bis 1981 Redakteur des Parteiorgans und arbeitet seitdem im herausgebenden Verlag „Zeitungsdienst Berlin“. Er wurde vom Verlag beauftragt, die Nullnummer vorzubereiten und fiebert jetzt dem Andruck entgegen. Viel soll sich ändern mit der neuen Zeitung, darin sind sich alle Beteiligten einig. Das SEW-Blatt erscheint noch bis Ende November und soll dann endgültig der Vergangenheit angehören. Ständig sinkende Auflagenzahlen und nur noch geringe Akzeptanz selbst unter SEW-Mitgliedern dürften die Hauptgründe für das Einstellen der 1955 gegründeten 'Wahrheit‘ sein.

Die 'Neue Zeitung‘ wird nicht mehr von der Partei herausgegeben, sie wird eine neue Chefredaktion und ein neues Layout erhalten, und natürlich vor allem eine neue inhaltliche Konzeption. Allerdings, so räumt Günther Bahr ein, die Eigentumsverhältnisse werden auch in Zukunft die alten sein. Die 'NZ‘ solle nicht mehr Organ einer Partei, sondern eine politische Zeitung für die Linke in der Stadt sein, so Bahr. „Wir sind nicht an eine Parteilinie gebunden, werden aber eine eigene Linie fahren.“ Für die wird aber weiter der Parteivorstand der SEW verantwortlich sein, so ist es jedenfalls einer Dokumentation der Neukonzeption zu entnehmen.

Bahr wie andere Redakteure der 'Wahrheit‘ glauben, daß es einen großen Bedarf für eine sozialistische Zeitung in Berlin gibt. Ein Blatt, das sich öffnet hin zu den Gewerkschaften, zur linken SPD und AL, auch zu linken Kirchenkreisen, soll die 'NZ‘ werden. „Zeitung des Dialogs“ umschreibt Bahr die neue Konzeption. So sollen dialogbetonte journalistische Formen in der Zeitung vorherrschen wie Interviews, Statements, Gastkommentare von und mit Vertretern aus dem linken Spektrum.

Den finanziellen Rahmen beschreibt Bahr als „sehr eng“, über genauere Zahlen will er keine Auskunft geben. Pro Woche seien zunächst 76 Seiten angepeilt, verteilt auf sechs Erscheinungstage. Auch die personelle Ausstattung der neuen Redaktion scheint im Moment noch in der Schwebe zu sein. Mit wem die Chefredaktion besetzt wird, ist noch völlig unklar, so der jetzige stellvertretende Chefredakteur der 'Wahrheit‘ Gerhard Seyfarth. Ein Teil der Chefredaktion werde zur 'NZ‘ gehen, der andere vermutlich Posten in der SEW erhalten. Die übrigen Redakteure gehen davon aus, komplett in die 'NZ‘ überzuwechseln und dort neue Verträge zu erhalten.

In den frischgestrichenen Redaktionsräumen der 'Wahrheit‘ wird das neue Projekt durch die Bank begrüßt. Schließlich sei ja die Idee einer neuen Zeitung innerhalb der Redaktion geboren worden, betont ein langjähriger Redakteur. Schon seit Jahren diskutiere man hier die mögliche Konzeption einer Zeitung, die über den „SEW-Mief“ hinausgehe. „Diese Diskussionen haben lange vor den Debatten um eine inhaltliche Öffnung der Partei begonnen, etwa im Jahr 1983“, resümiert Manfred Rey, Abteilungsleiter des Wirtschaftsressorts.

Im Juni 1987 war der langjährige Chefredakteur Heinz Grünberg abgelöst worden, nachdem Leser und Parteimitgleider empört auf die einseitige Berichterstattung des „Zentralorgans“ reagiert hatten. Bereits im Herbst vergangenen Jahres habe es so starke Spannungen mit dem Parteivorstand gegeben, daß von seiten der Redaktion eine regelmäßige Herausgabe nicht mehr garantiert worden sei, so Rey.

Im Frühjahr dieses Jahres wurde eine Arbeitsgruppe gegründet, die ein neues Zeitungskonzept vorbereiten sollte. Für das neue Blatt wurden drei politische Aufgaben formuliert: Eine Zeitung für die Partei solle es sein, eine sozialistische Zeitung und „eine Zeitung im demokratischen Dialog“. Glasnost in den Räumen der 'Wahrheit‘? Reformen in der DDR? Dazu will sich im Moment noch niemand äußern. Abzuwarten bleibt sicher auch, ob sich die im Sommer zum ersten Mal zart erkennbare Öffnung der SEW fortsetzt, die weiterhin für den politischen Kurs der Zeitung verantwortlich bleibt.

Große Hoffnungen und große Ansprüche an die 'Neue Zeitung‘

-gleichzeitig räumt Günther Bahr ein, vielleicht hoffnungslos idealistisch zu sein. Innerhalb der SEW ist der neue Name der Zeitung bis heute umstritten. Im Gespräch waren auch „LinksPress“, „AUF“, „ZeitZeichen“ und „Durchblick“. Allerdings, so neu ist der Zeitungstitel im deutschsprachigen Raum nicht: bereits in den zwanziger Jahren gab es mehrere kleinere kommunistische Blätter gleichen Namens. Und, nicht zu vergessen, die unter amerikanischer Federführung im Oktober 1945 in München gegründete 'Neue Zeitung‘ mit Hans Habe als Chefredakteur und Erich Kästner als Kulturchef, die als eine der wichtigsten Publikationen der Nachkriegszeit gilt. 1953 übersiedelte diese 'Neue Zeitung‘ nach Berlin, wo sie aber ihr Erscheinen einstellte.

Aber: man wolle keinesfalls an alte Traditionen anknüpfen, so Bahr, sondern mit einer 'Neuen Zeitung‘ ins neue Jahrtausend starten.

Kordula Doerfler

In unserer Montagsausgabe werden wir die Nullnummer der 'Neuen Zeitung‘ rezensieren.

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