: Italiens „pentiti“ auf dem Schweizer Prüfstand
Verfahren gegen angeblichen Rotbrigadisten Alvaro Baragiola in Lugano unterbrochen / Befangenheitsantrag gegen das Gericht / Frage der „reuigen Terroristen“ als Kronzeugen bestimmte erste Prozeßtage / Augenzeugen des Richter-Mordes erkennen Angeklagten nicht ■ Aus Lugano Andreas Rostek
Halbzeit oder vorschnelles Ende? Vor genau einer Woche begann in Lugano das Verfahren gegen den angeblichen Rotbrigadisten Alvaro Baragiola (früher Loiacono) wegen Mordes an einem Richter, und am Wochenende wußte im Schweizer Südkanton niemand zu sagen, ob der auf vierzehn Tage angesetzte Prozeß über die erste Hälfte hinauskommt.
Baragiola war im Sommer vor zwei Jahren im Tessin verhaftet worden, wo er seit geraumer Zeit ungestört bei seiner Mutter gelebt hatte. Die drei Verteidiger des Mannes, der in Italien als Italiener u.a. zu lebenslanger Haft verurteilt und in der Schweiz zum Schweizer mit neuem Namen wurde, haben einen Antrag gestellt, den es im Tessin noch nie gab: Die Vorsitzende Richterin, die beiden Beisitzer und die sieben Schöffen in dem Strafprozeß seien befangen, der Prozeß müßte neu aufgerollt werden. Die Begründung teilten die Verteidiger nur der zuständigen Richterin mit. Eine Entscheidung, ob das medienträchtige Unternehmen jetzt überhaupt weitergeht, wurde für heute erwartet.
Worum geht es? Für die Beobachter vor allem um eine Bilanz der italienischen Polit-Gerichtsbarkeit in den letzten zehn Jahren. Für den 34jährigen Angeklagten hingegen um eine mögliche lebenslängliche Haftstrafe. Die Schweizer Anklage wirft ihm vor, im Oktober 1978 als Mitglied eines Kommandos der Roten Brigaden (BR) den römischen Richter Girolamo Tartaglione ermordet zu haben. Außerdem soll Baragioia, der in Italien den väterlichen Namen Loiacono trug, in einen versuchten Mordanschlag und in versuchte Raubüberfälle verwickelt gewesen sein. Soweit die Anklage im Tessin.
In Rom wird dem Neuschweizer jetzt auch vorgeworfen, er sei das letzte noch unbekannte Mitglied des BR-Kommandos, das den Politiker Aldo Moro entführt und dessen Eskorte ermordet hatte. Diesen Anklagepunkt hatte der Tessiner Staatsanwalt Venerio Quadri allerdings fallen lassen. Begründung: Der Zeuge, auf dessen „Aussage“ die Anklage in Rom beruhe, habe seine Beschuldigungen vor der Schweizer Justiz nicht wiederholt.
Die Zeugen sind das entscheidende Problem dieses Prozesses. In doppelter Hinsicht: Der Angeklagte bestreitet, jemals Mitglied der Brigate Rosse gewesen zu sein, und folglich bestreitet er auch, mit dem Mordanschlag und den anderen Vorwürfen irgend etwas zu tun zu haben. Die Anklage ist also - ohne andere Beweise - auf Zeugen angewiesen. Aber gerade die Frage, ob die italienischen Zeugen, insbesondere die sogenannten „reuigen“ Terroristen, die „pentiti“, überhaupt zugelassen werden dürfen, bestimmte die erste Phase dieses „Revisionsverfahrens in erster Instanz“. Auf dem Schweizer Prüfstand steht letztlich die Frage, ob sich ein Land mit einer rechtsstaatlichen Gerichtsbarkeit ein Instrument wie das der „pentiti“ leisten sollte: einen Kronzeugen also, der sich als Mittäter dadurch heftige Strafnachlässe erkaufen kann, daß er seine früheren Genossen verrät, also Namen nennt, und seien es auch nur irgendwelche Namen. Die ersten Prozeßtage in Lugano waren von den Versuchen der Verteidiger ausgefüllt, diese Figur der „pentiti“ aus einem Schweizer Strafprozeß herauszuhalten.
Der Versuch ist weitgehend mißlungen. Das Gericht ging nur auf einen aus einer ersten Serie von Anträgen ein: Frühere mutmaßliche Mittäter oder Gesinnungsgenossen sollen in Lugano zwar gehört, aber nicht vereidigt werden. Ein feiner, aber wichtiger Unterschied: Ihre Aussagen können folglich nicht als Beweis, sondern lediglich als Indiz für die Urteilsfindung benützt werden. In einem zweiten Durchgang ging die Verteidigung ausdrücklich die „pentiti“ an. Das italienische Gesetz über die pentiti, das Gesetz Nummer 304 aus dem Jahr 1982, ist für die Schweizer Anwälte als Teil der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung nichts anderes als die Umsetzung des Prinzips „Der Zweck heiligt die Mittel“. Es dränge durch das Versprechen von Strafnachlaß zum Verrat, so Verteidiger Verda. Das Schweizer Strafrecht verbiete es hingegen, Zeugen Zusicherungen für ihre Aussagen zu machen, und ohnehin schließe es Zeugen aus, die gegenüber einem Verfahren „nicht indifferent“ seien. Auch die Europäische Menschenrechtskommission habe sich im Oktober 1987 gegen die Zulassung solcher Kronzeugen ausgesprochen.
Das Gericht war anderer Auffassung. In ihrer unnachahmlichen Mischung aus Paternalismus und Mütterlichkeit stellt die Vorsitzende Richterin Agnese Balestra Bianchi lapidar fest: „Keine Schweizer Norm hindert uns daran, irgend jemand als Zeuge zu hören, selbst wenn es sich um Geisteskranke oder Kinder handelt.“ Man werde dann die Glaubwürdigkeit dieser Zeugen schon einzuschätzen wissen.
Mit diesen „Kronzeugen“ steht und fällt das Verfahren. Die bisher gehörten „unbeteiligten“ Zeugen des Mordes an Richter Tartaglione hatten den Angeklagten noch nie gesehen. Am heutigen Montag steht der reuige Ex-Rotbrigadist und große Ankläger Massimo Cianfanelli auf dem Programm.
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