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„Wir müssen das Gesetz im Leben erproben“

Der stellvertretende Vorsitzenden des Komitees des Obersten Sowjets, Vladimir Samarin, zum neuen sowjetischen Streikgesetz  ■  I N T E R V I E W

Vladimir Ivanovitsch Samarin, Deputierter aus der Stadt Orjol, hat als stellvertretender Vorsitzender zeitweilig die Arbeitsgruppe aus zwei Kommissionen des Obersten Sowjets geleitet, die das am Sonnabend vorgestellte Gesetz „Über das Verfahren bei der Regelung kollektiver Arbeitsstreitigkeiten“ entwarf, das erste Streikgesetz in der Geschichte der Sowjetunion. Sowohl der Kreis der Arbeiter und Angestellten, die Streikrecht genießen, als auch der Katalog der möglichen zugrundeliegenden Forderungen sind dem Gesetz zufolge eingeschränkt. Ausgeschlossen vom Streikrecht sind zum Beispiel die im Verkehrs- und Nachrichtenwesen Beschäftigten, Angestellte von Betrieben, die die Energieversorgung gewähren, und die Mitarbeiter der Staatsorgane. Samarin hat sich während der Debatten für eine möglichst klare und scharfe Formulierung dieser Abgrenzungen ausgesprochen.

taz: Haben Sie selbst schon einmal an einem Streik teilgenommen?

Samarin: Nein, aber in unserer Arbeitsgruppe waren Abgeordnete, die Mitglieder von Streikkomitees waren, und dann gab es auch Deputierte die ehemalige Bergarbeiter aus Gruben waren, in denen gestreikt worden ist und die während der Streiks dorthin zurückfuhren, deren Vorschläge dem Projekt auch zugrundegelegt wurden.

In informierten Moskauer Kreisen gab es Klagen, daß nicht alle diese Vorschläge berücksichtigt worden seien.

Dies verhält sich wirklich so. Wenn wir vom Recht der Werktätigen auf Streik sprechen, müssen wir auch an das Recht anderer Werktätiger auf ein normales Leben denken.

Da sich die Möglichkeit des Streiks auf alle Produktionszweige erstreckt, wird das vor allem die schlechtestbezahlten Bevölkerungsschichten treffen. Verstehen Sie, worum es geht? Und dies mußten wir in erster Linie im Auge behalten. Wir mußten nicht nur die Rechte der Streikenden im Auge behalten, sondern auch die Rechte anderer Bevölkerungsschichten, die praktisch nicht die Möglichkeit haben zu streiken, wie zum Beispiel die Bauern. Oder denken Sie doch an die Lehrer und Ärzte, die bei uns noch bei weitem schlechter bezahlt werden als die Arbeiter, zu denen sich ihr sozialer Abstand im Falle von Streiks noch vergrößern würde. Wir wollten daher ein juristisches Dokument schaffen, das die Rechte eines jeden einzelnen Bürgers, aber auch die aller zusammen garantiert.

Was halten Sie von dem überregionalen Zusammenschluß der Streikkomitees?

Wenn sich die Streikkomitees schon auf der Ebene der Städte und Verwaltungsbezirke zusammenschließen, dann können wir ja auch gleich ein Gesamtunionsstreikkomitee bilden und das Parlament nach Hause schicken! Dann hätten wir zwar nicht die Diktatur des Proletariats, aber doch eine Diktatur der Produzierenden. Ich habe während der Debatte vorgeschlagen, die Leute, die sich als interessante Persönlichkeiten in den Streikkomitees profilieren, bevorzugt in die Gewerschaftskomitees aufzunehmen. Laßt uns mit dem unnötigen Ballast dort aufräumen und diese Strukturen mit wirklichen Menschen füllen. Dies zum ersten - und zum zweiten: Wir haben ja noch die örtlichen Sowjets, und auch dort wäre es an der Zeit, daß Leute mit Autorität dort hineingehen, die als Interessenvertreter auch anerkannt werden. Aber warum sollen wir uns eine neue Mammutstruktur aufhalsen, die so in keinem Staat der Erde existiert. Das Wirkungsfeld der Streikkomitees muß auf ihre Betriebe und die mit diesen verbundenen Ministerien und Ämter beschränkt bleiben.

Dort könnten sie dann permanent tätig sein?

Auf keinen Fall. Wir haben ja Gewerkschaften, und die müssen endlich auf die Ebene ihrer eigentlichen Aufgaben gebracht werden. Im Gesetz sieht es jetzt so aus, daß das Streikkomitee bis zum Abschluß eines neuen Tarifvertrages tätig wird. Diese Verträge erstrecken sich bei uns in der Regel noch auf den Zeitraum der Fünfjahrespläne. Nach Vertragsabschluß ist im Gesetz noch eine Dreimonatsfrist vorgesehen, in deren Verlauf die Arbeitsbedingungen angepaßt werden müssen. Fällt dies nicht zur Zufriedenheit aus, dann kann das Streikkomitee erneut zusammentreten. Wir möchten den Komitees also die Möglichkeit einer Interessenvertretung der Werktätigen erhalten, wollen aber eine Doppelherrschaft ausschließen.

Lehrt nicht die Geschichte, daß in revolutionären Situationen immer Doppelherrschaft besteht?

Sie lehrt aber auch, daß von den Herrschaften dann immer nur einer übrigbleibt.

Welche Sanktionen sind gegen solche Zusammenschlüsse vorgesehen? Es besteht ja bereits eine überregionale Vertretung der Streikkomitees.

Das ist ehrlich gesagt eine ungesetzliche Erscheinung, die ich allerdings in der besonderen Situation, in der wir uns befinden, für erträglich halte. Supersanktionen sind hier unangebracht. Die Frage muß aber im Laufe der Herausbildung des Rechtsstaates bei uns geklärt werden. Sonst können wir gleich dem Obersten Sowjet den Rücken kehren, das Gesetz Gesetz sein lassen, und jeder kann in seinem kleinen Sonderbereich herumwursteln.

Wie soll dem Gesetz zufolge nun die Schiedsinstanz aussehen, die über Streik und Nichtstreik nach dreizehn Tagen Konflikt entscheidet?

Vertreter beider Seiten und möglichst solche, die Autorität genießen. Im Unterschied zum ersten innerbetrieblichen Schlichtungsversuch nach fünf Tagen sollen in dieser Kommission auch Vertreter von Regierungsinstanzen sitzen, zum Beispiel des staatlichen Preisamtes, der betroffenen Ministerien usw. Kommt es zu einer Einigung vor diesem Forum, sind die hier geschlossenen Vereinbarungen für alle Beteiligten verbindlich. Wenn nicht, ist das äußerste Mittel des Streiks angesagt.

Und wer kommt für die Streikkosten auf?

Dafür ist die sofortige Schaffung spezieller Fonds bei den Gewerkschaften vorgesehen. Und natürlich sind alle Arten privater Stiftungen und Sammlungen denkbar. Auf keinen Fall soll es aber an die Lohntüten gehen.

Wenn Sie sich das Gesetzesprojekt nun ansehen, sind Sie zufrieden?

Dies ist das allererste Streikgesetz in unserem Lande. Kann man mit einer solchen ersten Frucht etwa zufrieden sein? Wie alle ersten Gehversuche ist auch dieser unvollkommen, aber es ist jetzt schwer zu sagen, worin diese Unvollkommenheit bestehen könnte. Wir müssen das Gesetz im Leben erproben. Wünschenswert wäre natürlich: in einer Zeit der politischen und ökonomischen Konsolidierung. Nach ein bis zwei Jahren könnten wir dann schon mehr sagen. Für den Moment habe wir angesichts der vielen widersprüchlichen Interessen den bestmöglichen Kompromiß erreicht.

Sind denn die Kompetenzen in dem Gesetz klar genug abgegrenzt?

Meiner Ansicht ist hier alles klar. Es gibt allerdings sozusagen eine „artfremde“ Bestimmung in dem Gesetz, nämlich Artikel 12a, der Streiks aus Motiven verbietet, „die mit Forderungen nach gewaltsamer Abschaffung und Änderung der sowjetischen Staats- und Gesellschaftsordnung verbunden sind“. Dem Titel zufolge sind Gegenstand des Gesetzes Arbeitskonflikte, die Regelung von politischen Auseinandersetzungen hat hier nichts zu suchen. Der Oberste Sowjet sah sich zu diesem Einschub veranlaßt, weil bisher noch kein Gesetz über den „bürgerlichen Ungehorsam“ existiert, das dann auch ganz andere Formen der politischen Verweigerung aus noch ganz anderen Motiven berücksichtigen müßte. Ein solches Gesetz wird es geben, und ich bin sicher, daß Artikel 12a dann aus der vorliegenden Regelung gestrichen werden wird.

Interview: Barbara Kerneck

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