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Veränderer sind nicht gefragt

Man lege es nur in aller Munde, was die einzig schlüssige Konsequenz aus den Ereignissen in und um die DDR dieser Tage ist: die Wiedervereinigung, weil sich nun ja mal wieder deutlich beweist, daß von Dauer nicht sein kann, was von vornherein nicht hätte sein dürfen: ein zweiter, anderer deutscher Staat. Damit erreicht man dann ganz sicher, daß nicht eintritt, was man zu wünschen vorgibt: Reformen in der DDR.

(...) Zwar mögen sich Unzufriedenheit mit den Verhältnissen daheim, das Empfinden einer Perspektivlosigkeit in der DDR und vor allem Angst vor „Pekinger Ereignissen“ als Ursachen für das panische Verlassen des DDR-Schiffes erkennen lassen, doch woher nimmt man eigentlich die Arroganz, dies gleich als Rundum- und Pauschalzustimmung für die eigene Politik zu werten und sich beim Anblick der auf bundesdeutschen Grenzbahnhöfen Jubelnden vor Stolz auf die Brust zu schlagen?

(...) Da wird die Selbstverständlichkeit, mit der man als Flüchtling im anderen Nachkriegsstaate der Nation aufgenommen worden ist, gleich zur selbstverständlichen Zustimmung für das dort herrschende System umgedeutet, ja, zum Muß erhoben; anderenfalls hätte man ja bleiben können, sogar sollen. Veränderer sind auch hier nicht gefragt. (...)

Der von der bundesdeutschen Öffentlichkeit vielgeschmähte weil unbequeme - Kenner der Deutschen Ost und West Günther Gauß brachte es dieser Tage einmal mehr auf den Punkt: Man habe, so der ehemalige Vertreter Bonns in Ost-Berlin, versäumt, die Entwicklungstendenzen in der DDR mit Sensibilität wahrzunehmen. Die „Grobschlächtigkeit“, mit der westliche Medien, allen voran die elektronischen, dieser Tage von den Ereignissen um den 40. Gründungstag der DDR berichten, hat eine ihrer Ursachen wohl auch im Hang zur Selbstbestätigung der Bundesrepublikaner, allen voran deren PolitikerInnen, die die Bundesrepublik zur einzig für alle Deutschen möglichen Staatsform erklären.

Genau das, was man der DDR nicht zu Unrecht als Charakteristik überstülpt, den Zwang zum Nachweis der Existenzberechtigung, treibt auch im ersten deutschen Staate unselige Blüten. Schließlich hätten ja auch seine BewohnerInnen eine Alternative, sollte die DDR nun mittels weitgreifender Reformen halten, was ihre GründerInnen einst versprachen: die Bundesrepublik zu „überholen, ohne sie einzuholen“, wie auch immer das konkret aussähe.

Wie sehr auch sie letztlich nichts anderes als gute Deutsche sind, stellen die BewohnerInnen der DDR derzeit durch ihre Gründungsfreude für Parteien und Vereine unter Beweis. Ob Regieren oder Opponieren oder Reformieren: Alles muß schließlich seine Ordnung haben. Daß sie deswegen einen Staat wie die Bundesrepublik zwingend bräuchten, werden die ostdeutschen „Vereinsmeier“ aufs heftigste zu bestreiten wissen, mit brauchbaren Argumenten. Schließlich hat es sich auch in der eingemauerten DDR inzwischen herumgesprochen, wohin „Freiheit statt Sozialismus“ die Deutschen-West gebracht hat. Da hat man in Bonn wohl nicht sehr genau aufgepaßt, wie sich „die kleinen Schritte“ auf die „Brüder und Schwestern“ ausgewirkt haben. (...)

Wie viele auch noch in diesen Tagen (oder gerade?) von Besuchsreisen in die DDR zurückkehren oder ihren Aufenthalt im gewandelten Ungarn nicht nutzten, um zu flüchten, obwohl sie damit rechnen mußten, zum letzten Male vor einer solchen Gelegenheit zu stehen, davon will man in den Schlagzeilen über Flüchtlingszahlen recht wenig wissen. Ganz zu schweigen von denen, die - in aller Verschwiegenheit, versteht sich ihr Ungarn-Visum für einen heimlichen Besuch im Westen zu nutzen verstanden und auf demselben Wege zurückkehren, auf dem sie gekommen sind. (Man läßt sich an der ungarischen Grenze ein Visum in den West-Paß stempeln und schmeißt ihn nach der Wiedereinreise nach Ungarn in den nächsten Papierkorb, um mit den DDR-Papieren nach Hause zu reisen. (...)) Man staune, doch es gibt sie: Leinwand -GrenzgängerInnen a la Meyer werden Realität.

Die Möglichkeiten, die sich den DDR-Leuten eröffnet haben, eine freie Entscheidung über Gehen oder Bleiben zu treffen, stärkt ihr Selbstbewußtsein und erhöht ihre Konfliktbereitschaft gegenüber der Staatsmacht. Man hat es hierzulande versäumt, diese stetige Entwicklung zu beobachten, die man jetzt als „Novitäten“ der bundesdeutschen Öffentlichkeit und dem Hohngelächter der Menschen in der DDR preisgibt.

(...) Daß nicht nur Honeckers zum Gründungsjubel erneut wiedergekäute Phraseologie längst überholt ist, sondern dies ebenso für bundesdeutsches Wachstums- und Wohlstandsdenken zutrifft, dürfte Leuten wie Bärbel Bohley, die ja monatelang im Westen lebte und - anders als noch der hüben wie drüben unduldsame Barde Biermann - in die DDR zurückkehren durfte, längst aufgegangen sein. Längst hat man verstanden, daß es für einen besseren Sozialismus eben kein Büchsenbier, keine Coca-Cola und schon gar keine großdeutsch-fusionierte Rüstungskonzerne braucht, die gerade so erfolgreich in Bonn ihre Interessen vertreten.

Noch gibt es kaum klare Programm- und Zielvorstellungen bei den Oppositionsvereinen, doch zwei Forderungen hört man aus allen Verlautbarungen deutlich: nach einer Medienlandschaft, die endlich Vielfalt zwischen die Ost-West -Mattscheibenfronten bringt, und Stimmauszählung in DDR -eigenen Wahllokalen, nicht auf bundesdeutschen Bahnhöfen und Aufnahmelagern. Wofür und wogegen, das werden uns die „Landsleute drüben“ schon wissen lassen, wenn es soweit ist.

Tim Gerber, seit acht Monaten in der BRD, vorher DDR-Bürger

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