: Die unten wollen nicht mehr!
■ Ob in Dresden oder Ost-Berlin, die DDR-Opposition wird immer unbescheidener
In Bockshorn jagen lassen sich weder die BürgerInnen noch die AktivistInnen. In Dresden gab es nur ein Resultat, das die Reformbewegung akzeptierte. Die Einbeziehung von unabhängigen Bürgern in die Untersuchung der Polizeiübergriffe während der vergangenen Protestdemonstrationen. In der Haupstadt regt sich unterdessen der Protest der StudentInnen, was die FDJ endgültig auf den Plan rief. Ein Sprecher des neuen Forums sieht im Führungswechsel erst mal nur eine kosmetische Korrektur.
„Information, die alle angeht, gehört auf öffentliche Plätze.“ Als der evangelische Superintendent Ziemer mit diesen Worten die Veranstaltung in der Dresdener Kreuzkirche einleitet, bricht in den dichtgefüllten Bankreihen und Gängen minutenlang anhaltender tosender Beifall aus. Von draußen, wo an diesem Dienstag abend erstmalig Lautsprecher installiert werden durften, dringt ein siegesgewisses Pfeifkonzert durch die dicken Kirchenmauern. Gemünzt ist die Kritik auf Dresdens Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer, über den die DDR-Medien schreiben, daß er einen „Dialog“ aufgenommen hat. Tatsächlich hat Berghofer sogar zwei Gespräche mit Oppositionellen geführt, doch einen „Dialog auf der Straße“ lehnt der Oberbürgermeister kategorisch ab. Das, obwohl schon einmal 10.000 DresdnerInnen unter seinem Balkon genau das verlangten.
Das ungestillte Diskussionsbedürfnis hat am Dienstag abend wieder tausende Menschen aller Alters- und Berufsgruppen auf die Beine gebracht. Die evangelische Kirche hat gleich fünf Dresdener Gotteshäuser, darunter auch die Kathedrale, zur Verfügung gestellt, damit „die Informationsveranstaltung nicht wegen Platzmangels zweimal gemacht werden muß“. Mit rasanter Geschwindigkeit haben sich die evangelischen Kirchen zum gesellschaftlichen Forum entwickelt. Selbst die Ausstellung von abstrakten Zeichnungen im mittleren Schiff der im Herzen der Altstadt gelegenen Kreuzkirche gerät zur politischen Veranstaltung, wo zwischen den Bilderrahmen der neueste Aufruf der Sozialdemokratischen Partei der DDR (SDP), Warnungen des „Neuen Forums“ vor gewaltsamen Auseinandersetzungen und ein Gedicht unter der Überschrift „Bleib!“ hängen. In kleinen Trauben stehen schon nachmittags Menschen vor diesen Mitteilungen. Viele schreiben sie ab für ihre Schulklassen oder Betriebe. Die Kirchenoberen beobachten das neue Interesse an ihrer Arbeit mit einem lachenden und einem weinenden Auge. An diesem Abend sagt Ziemer den Versammelten, daß die Kirche nicht zum bequemen Alibi werden und deshalb künftige Informationsveranstaltungen nicht mehr in Gotteshäusern machen will. Statt dessen soll die Stadtverwaltung selbst die Räume zur Verfügung stellen, denn die „Probleme müssen dort gelöst werden, wo sie entstehen“. Heute wird jedoch noch einmal die „Gruppe der 20“ im Anschluß an die „Andacht für die politischen Gefangenen“ über den „Bürgermeister -Dialog“ vom Vorabend berichten - in Abwesenheit des Oberbürgermeisters.
Nach den blutigen Auseinandersetzungen am Dresdener Hauptbahnhof hatte sich die „Gruppe der 20“ aus Kirchenleuten und Zivilen konstituiert, um den „drohenden Kreislauf der Gewalt zur durchbrechen“. Ihr Sprecher, der 36jährige Entwicklungsingenieur Friedrich Boltz, definiert seine Gruppe: „Wir sind keine Partei und keine Opposition, wir suchen den gewaltlosen Dialog.“ Die Themenkomplexe der Gruppe für die Verhandlungen stehen schon fest. Sie enthalten so ziemlich alles, was den DresdenerInnen unter den Nägeln brennt, darunter so unterschiedliche Forderungen wie die nach Weiterentwicklung des Wahlrechtes, nach Reise und Ausreisefreiheit, das Recht ehemaliger DDR-BürgerInnen auf Rückkehr, die Entwicklung der äußeren Neustadt, die Durchsetzung des Verursacherprinzips bei Umweltproblemen und des Leistungsprinzips im Gaststättengewerbe.
Der Forderungskatalog wird von der Versammlung mit frenetischem Beifall begrüßt. „Konkrete Reformen, das ist genau das, was wir brauchen“, ruft jemand aus den oberen Kirchenrängen. Doch die Stimmung schlägt sofort um, als Boltz über den konkreten Dialog-Versuch vom Montag berichtet: Mehrfach standen die Gespräche kurz vor dem Abbruch. Das Ergebnis ist „unbefriedigend“, und die „Gruppe der 20“ sieht skeptisch in die Zukunft des Dialogs. Oberbürgermeister Berghofer weigerte sich, die Gruppe, statt „einzelner Bürger“, als Verhandlungspartnerin anzuerkennen und ihre Arbeit als „gesellschaftliche Tätigkeit“ zu werten. Demonstrationen und Kundgebungen werden weiterhin nicht genehmigt. Und die Dialogergebnisse werden nicht veröffentlicht.
Übereinstimmung brachte der Dialog nur in einem wesentlichen Punkt: Eine Untersuchungskommission soll die Übergriffe von Polizei und Militärs auf DemonstrantInnen und ihre Mißhandlung in der Haft prüfen. Die „Gruppe der 20“ soll prominente BürgerInnen für diesen Ausschuß benennen.
Mitten in der Veranstaltung kommt ein Telefonanruf: Oberbürgermeister Berghofer will den „Dialog“ voraussichtlich am 27. Oktober fortsetzen. Die neuerliche Demonstration hat ihn vielleicht überzeugt. Aber die Versammelten wissen auch, daß er eigentlich gar nicht der richtige Gesprächspartner, sondern eine Marionette am Gängelband der Partei ist. Sie wollen schon lange den Dresdener Bezirkssekretär der SED, Modrow, sprechen. Doch der SED-Reformer ist, wie die Führungsriege der Partei, in den letzten Tagen auf Tauchstation gegangen.
Als Mitarbeiter der Jugendpfarrei Augenzeugenberichte von der Demonstration am 7. Oktober verlesen, ist die Stimmung im Saal vor dem Siedepunkt: „Wir mußten mit dem Gesicht nach unten auf der Ladefläche der LKWs liegen. Bei jeder Bewegung erhielten wir Schläge mit dem Gummiknüppel“, schreibt einer der Festgenommenen. „Von 18.30 bis 1.00 morgens mußten wir mit gespreizten Beinen, die Hände auf dem Rücken, die Stirn gegen die Wand gelehnt, stehen.“ Einblicke in die Situation auf der anderen Seite liefert ein Brief, den ein Wehrpflichtiger, der am 6. Oktober in Dresden im Einsatz war, an seinen Seelsorger geschickt hat: „Daß sich die Sache so entwickelte, wollte niemand von uns.“ Erst nachdem die Situation ohne Eingriffe der Uniformierten bereits eskaliert war, seien sie ins Feld geschickt worden, wo sie in der ersten Reihe Steinwürfen ausgesetzt waren. „Zwei von uns brachen zusammen, dann nahm man uns die Schilder weg, und wir wurden in Fünfer-Gruppen in die Masse gejagt. Zum ersten Mal hatte ich so etwas wie Todesangst.“
Vor der Kirche formiert sich derweil ein Demonstrationszug. „Ich habe genug gehört“, sagt ein schwarzgekleideter 20jähriger. Ohne Transparente aber mit dem bekannten Slogan „Schließ dich an, wir brauchen jeden Mann“, erobern sie die nächtliche Innenstadt, wo jetzt, um 22 Uhr, viel mehr Menschen unterwegs sind, als zur besten Einkaufszeit.
Clara Coq
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen