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„Alles viel ruhiger und disziplinierter als '68“

■ Bremer Oberstufen-SchülerInnen vom Schulzentrum Rübenkamp waren Augenzeugen in der Ostberliner Gethsemane-Kirche am Montag abend

„Am eindrucksvollsten war für uns der Moment, als die vielen Menschen im Gottesdienst laut Beifall klatschten.“ Sonja, Jan und Ville sind noch immer tief beeindruckt von den Bildern aus der Gethsemane-Kirche in Ost-Berlin, in der sie auf ihrer Klassenfahrt am Montag abend einen Fürbittegottesdienst mit Informationsandacht miterlebt hatten. Am Dienstag, dem Tag vor dem offiziellen Rücktritt Honeckers, waren die 14 Oberstufenschüler des Gymnasiums am Schulzentrum Rübekamp von ihrer fünftägigen Studienreise durch die DDR zurückgekehrt. „Die Leute sind überall total offen auf uns zugekommen“, erzählt Ville Steudle (18) von den Besuchen in Stralsund, Rostock und Ost-Berlin. Ville war über diese Offenheit besonders überrascht, weil er bei früheren DDR-Besuchen mit seinen Eltern Kritik am System immer nur geflüstert hörte. „Als auf dem Alexanderplatz einer sagte 'Honi muß abtreten‘, kam aus einer ganz anderen Ecke des Platzes lauter Beifall“, wundert sich auch Jan Kaacksteen (19) über die Offenheit der DDR-BürgerInnen.

Die drei Jugendlichen hatten den freien Montag abend genutzt, um in einer kleinen Gruppe zu

sammen mit ihren Lehrern Annemarie Creutz und Lothar Gebhardt in die Gethsemane-Kirche zu gehen. „Uns hat es an die Aufbruchstimmung von '68 erinnert“, meint Annemarie Creutz und nennt gleichzeitig den für sie auffälligsten Unterschied: „Diese Bewegung ist viel disziplinierter, ruhiger. Längst nicht so wild und auch nicht gegen den Staat und seine Institutionen gerichtet.“ Und Sonja Kruse (17) ergänzt: „Die Menschen betonten immer wieder, daß sie zusammen mit dem Staat etwas Neues aufbauen wollen. Und zwar völlig gewaltfrei. Das merkte man auch am Umgang der Leute untereinander. Sie riefen immer wieder im Chor: 'Wir bleiben hier‘, und alle haben mitgeklatscht.“

Der Gottesdienst war tags zuvor an der Kirchentafel angekündigt worden. Schon eine halbe Stunde vor dem offiziellen Beginn um 18 Uhr konnten die BremerInnen kaum noch einen Stehplatz ergattern. „Man stand wie in der Straßenbahn“, erzählt Jan. Vor der Kirche habe auch an diesem Abend die Mahnwache gestanden, die in den Fernsehberichten der letzten Wochen immer wieder zu sehen war. Auf der Mauer stellten die ankommenden

Gottesdienstbesucher brennende Kerzen auf. Hunderte mußten schließlich draußen vor der Türe bleiben, weil die Kirche überfüllt war. „Der Kirchenraum glich einem Informationszentrum“, schon am Eingang hingen die handgeschriebenen Info-Plakate mit den neuesten Nachrichten aus Leipzig, Dresden und allen anderen Schauplätzen der letzten Tage. An der Kirchenwand war

auch die Telefonnummer zu finden, unter der die vorübergehend Festgenommenen ihre Schicksale und Erfahrungen weitergeben, Angehörige und Freunde nach Verschollenen suchen oder sonstige Informationen weitergegeben werden konnten. „Nach dem Gottesdienst wurden vielleicht 20.000 Flugblätter (ein offener Brief an Bürgermeister Krack) verteilt, die, soweit wir das über

blicken konnten, alle mit der Schreibmaschine getippt worden waren“, berichtet Sonja und vermutet, daß hier mit vereinten Kräften an Schreibmaschinen und mit Durchschlagpapier das Kopierverbot umgangen wurde.

Für den Gottesdienst seien eigens Lieder mit aktuellem Bezug komponiert worden. „Selbst ein Stein wird warm, wenn die Sonne wieder scheint...“ und „eine

Hand will wieder Hand sein und nicht wieder schlagen“, erinnern sich die BremerInnen an Refrains aus diesen Liedern, die mangels kopierter Textvorlagen ad hoc per Vorsänger mit Gitarre eingeübt worden waren.

„Nur Orgelspiel, Predigt und das Vaterunser hatten etwas mit dem üblichen Ablauf von Gottesdiensten gemeinsam, und das machte nur rund ein Viertel der Veranstaltung aus“, berichtet Lehrer Gebhardt von dem Abend in der Kirche. Der Pfarrer habe in seiner Predigt einen Psalm über den Mißbrauch staatlicher Macht und darüber, wie ein Christ mit ihr umgehen muß, ausgelegt. Gleichzeitig habe der Pfarrer aber auch gemahnt, daß man im Polizisten den Menschen sehen müsse, den man ansprechen soll. Fürbitte und Kollekte des Gottesdienstes galten den von Demonstrationen weg -Inhaftierten, die namentlich genannt wurden, und denen, die in Haft sitzen, weil sie ihren Ausreiseantrag gestellt hatten.

Und während am Montag abend dieser Gottesdienst noch lief, übermittelte der Pfarrer, daß zur selben Zeit zigtausend Menschen mehr als am Sonntag in Leipzig demonstrierten. „In der Gethsemane-Kirche wurden außer Reformen auch die Absetzung von Kulturministerin Margot Honecker, von Schnitzler und von Egon Krenz gefordert“, schließt Sonja ihren Augenzeugenbericht, der inzwischen von der Realität eingeholt wurde.

Birgitt Rambalski

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