piwik no script img

Bald gibt's Schulchaos in Berlin

■ Die Schulverwaltung sieht einen Kollaps voraus / Alle Langzeitplanungen sind durch den starken Bevölkerungszuwachs hinfällig 180 Millionen Mark für ein Sonderprogramm gefordert / Der Bund muß helfen / Reformpädagogik darf nicht aufgegeben werden

Die Entwicklung der Schülerzahlen in Berlin verläuft offensichtlich erheblich anders als erwartet. Bereits jetzt herrscht eine dramatische Situation an den Schulen. Die im Juni von der Senatsschulverwaltung erstellte Modellrechnung zur Entwicklung der Schülerzahlen während der nächsten Legislaturperiode gilt seit Anfang Oktober als überholt. Durch die starke Zuwanderung, die Berlins Bevölkerungszahlen drastisch ansteigen läßt, steigen auch die Schülerzahlen wesentlich stärker als ursprünglich angenommen. Kinder von Aus- und ÜbersiedlerInnen lassen die Zahlen besonders in die Höhe schnellen.

Insgesamt, so hat die Senatsschulverwaltung jetzt errechnet, werden die Schüler an Berlins Schulen bis 1993 um mehr als 8.000 höher sein als bisher angenommen. Noch im Juni hatte man mit einem Anwachsen um etwa 15.000 Schüler in diesem Zeitraum gerechnet, jetzt wird mit über 23.000 gerechnet. Dem liegt die Annahme zugrunde, daß sich die Zuwanderung von Aus- und ÜbersiedlerInnen im nächsten Jahr in der gleichen Größenordnung bewegen wird wie dieses Jahr. Zur Zeit drücken etwa 6.000 bis 7.000 Übersiedlerkinder in Berlin die Schulbank. Nicht bekannt ist, wie viele davon in der letzten Zeit nach Berlin gekommen sind. Dies könne nicht gesondert erhoben werden, so ein Sprecher der Schulverwaltung.

Die steigenden Schülerzahlen ziehen beträchtliche Auswirkungen nach sich: Auch die Planung für Lehrerstellen, Sachmittel und räumliche Versorgung ist damit hinfällig. War man im Sommer von einem Mehrbedarf von gut 1.100 neuen Planstellen bis 1993 ausgegangen, rechnet man jetzt damit, daß 1.000 weitere Stellen benötigt werden. Außerdem sieht die Senatsschulverwaltung Schwierigkeiten bei der Unterbringung der Schüler, allein für die Kleinsten müßten 37 neue Grundschulen errichtet werden, jede davon mit 30 Millionen Mark veranschlagt. Um die drängendsten Raumprobleme zu lösen, ist geplant, bis zum Jahr 1992 mobile Unterrichtsräume anzumieten, da Baumaßnahmen nur langfristig greifen.

Berlin kann die Probleme, die allein im Schulbereich entstehen, nicht allein lösen, darüber herrscht im Senat Einigkeit. Schulsenatorin Volkholz forderte gestern in einer Pressekonferenz den Bund auf, ein Sofortprogramm zur Integration von Aus- und ÜbersiedlerInnen finanziell zu unterstützen: „Ich möchte in aller Eindringlichkeit an den Bund appellieren, Berlin nicht allein zu lassen.“ Sie halte es für unannehmbar, wenn der Bund den Ländern und Gemeinden eine Begrenzung der Haushaltssteigerungsrate auf drei Prozent abverlange, im Bundeshaushalt aber mit 3,4 Prozent eine beträchtlich höhere Ausweitung vorgenommen werde. „Ich habe den Eindruck, daß sich der Bund seiner besonderen Anforderungen, bei diesen Kriegsfolgelasten für einen Lastenausgleich zu sorgen, nur unzureichend bewußt ist.“ Ein Sonderprogramm im Schulbereich würde allein jährlich mindestens 180 Millionen Mark verschlingen, so die Senatorin. Untätigkeit des Bundes könnte fatale politische Folgen haben und zu einer Polarisierung der Bevölkerung führen, warnte Frau Volkholz.

Nach Ansicht der Schulverwaltung kommt es überhaupt nicht in Frage, die reformpädagogischen Zielsetzungen des neuen Senats, für die im Haushalt bereits besondere Gelder beantragt worden sind, aufzugeben, um damit Löcher zu stopfen. Die reformpädagogischen Ansätze sehen unter anderen eine gemeinsame Erziehung von behinderten und nichtbehinderten Kindern und eine zweisprachige Erziehung vor. Auch andere Schulformen und Gesamtschulen sollen weiterentwickelt werden. Auf einer Klausurtagung am Wochenende wird sich der Senat mit der Aus- und Übersiedlerproblematik befassen.

kd

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen