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Falsch und ungerecht-betr.: "Der allmächtige Rausch von genetischen Träumen", taz vom 6.10.89

betr.: „Der allmächtige Rausch von genetischen Träumen“,

taz vom 6.10.89

Das Buch Träume der Genetik hat die Kleessche Kritik nicht verdient; sie ist in zentralen Aspekten falsch und ungerecht. Klees muß die Zielsetzung des Buchs mißverstanden haben.

Weß hat die Frage gestellt: „Wie und warum die fieberhafte Zerlegung des Vererbungsprozesses in immer kleinere Einheiten gepaart war mit utopischen Entwürfen zur Neugestaltung der Gesellschaft.“ Und: „Zu diesem Zweck soll die Wechselwirkung der gentechnischen Sozialutopien mit der genetischen Wissenschaft und ihren zugrundeliegenden Theorien schlaglichtartig beleutet werden.“

Weß verzichtet explizit auf die Darstellung einer „kritischen Biologiegeschichte“, auf die „Analyse der vielfältigen Wurzeln dieser Träume in der Sozialgeschichte“ und auf die Aufdeckung der „Verbindungen zwischen den Träumen und der Politik der herrschenden Klasse“ - und zwar zu Recht, dürfte doch das Einlösen eines derartigen Anspruchs die Kapazität eines personell gut ausgerüsteten Instituts für einige Jahre beanspruchen.

Aus der bewußten Eingrenzung der Thematik „Vordergründigkeit“ abzuleiten und dem Herausgeber einen „blinden Fleck“ zu unterstellen, ist unrichtig und ungerecht. Klees‘ Kritik gipfelt in der wirklich bösartigen Unterstelunng, Weß trage zur „Fortführung der herrschenden Geschichtslosigkeit“ bei. Fast 100 Seiten Dokumente von Ploetz 1895 bis Lederberg 1963, dazu 100 Seiten, die diese Dokumente historisch einordnen und erläutern, und dann diese Behauptung. Sie ist bösartig, weil sie die zentrale Zielsetzung des Buches ohne jede Begründung torpediert und damit den/die gerade an den historischen Wurzeln interessierten LeserIn sich abwenden läßt, sofern er/sie die Kritik des Professors für bare Münze nimmt.

Dem Buch ist zu entnehmen, wie Generationen von GenetikerInnen daran gearbeitet haben, Macht über die Biologie des Menschen zu gewinnen und diese Macht sozial wirksam werden zu lassen; die beschriebenen Lebensläufe belegen, daß sie aus diesem Impetus die Motivation zu ihrer Forschung gewonnen haben; ihr Denken hat Generationen von GenetikerInnen, BiologInnen und MedizinerInnen geprägt.

Dieses Buch ist dringend notwendig, weil das Instrumentarium zur Kontrolle und Manipulation der menschlichen Fortpflanzung, auf das Ploetz vor 100 Jahren gehofft hat, heute parat ist und angewandt wird; die Träume nehmen längst reale Gestalt an, und wer heute Kongresse und Symposien von HumangenetikerInnen und ReproduktionsmedizinerInnen besucht, den wird das gute Gewissen entsetzen, mit dem die EntwicklerInnen und BeherrscherInnen dieser Instrumente ihre eugenischen und selektionistischen Strategien verfolgen.

Die Herkunft dieses guten Gewissens erklärt das Buch von Weß. Das kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, denn so wird deutlich, daß Science Fiction entlehnte Horrorpersektiven, Enquetekommissionen und gut gemeinte Resolutionen ein Nichts sind, um diese seit 100 Jahren systematisch betriebene Entwicklung auch nur im Zaum zu halten. Wo ist denn in dieser Zeit mit annähernder Systematik und annähender Wucht an einer Gegenperspektive gearbeitet worden?

Die Essentials des Genetiker-Manifestes von 1939 sind fest in den Köpfen nicht nur von GenetikerInnen verankert; so erklärt sich auch die große Akzeptanz eliminierender Strategien vorgeburtlicher Diagnostik, der Sterilisation geistig Behinderter aus eugenischer und sozialer Indikation und der brutalen Experimente humaner Reproduktionstechnologie; so haben es die Träumer von damals gewollt: nicht erzwungen, sondern freiwillig.

Diesen bereits wohl funktionierenden Zirkel von Angebot und Nachfrage auf diesem Sektor zu durchbrechen, müßte „die Aufgabe der nächsten Jahre sein„; und ein Buch, das hierzu einen bislang singulären Beitrag leistet, sollte nicht derart ungerecht kritisiert und durch eine total mißglückte Illustration dieser Kritik trivialisiert und ins Lächerliche gezhogen werden.

Michael Bentfeld, Hamburg 50

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