„Gulag“ als Schullektüre

■ In Moskauer Geschichtsbüchern hält jetzt Solschenizyns Trilogie über den „Archipel Gulag“ Einzug

Moskau (ap) - In Moskauer Schulen zählt der „Archipel Gulag“, die jahrelang verbotene Lagertrilogie des Schriftstellers Alexander Solschenizyn, jetzt zur empfohlenen Lektüre. Wurde die Ermordung von Millionen unter Stalin in den bisher verfügbaren Schulgeschichtsbüchern mit keiner Silbe erwähnt, heißt es in neuen, kürzlich erschienenen Lehrwerken: „Vorläufige Schätzungen setzten die Zahl der Toten bei rund 40 Millionen Menschen an.“ Glasnost hat Einzug in den Geschichtsunterricht gehalten.

Im Juni 1988 waren die Schulbehörden angewiesen worden, die Reifeprüfung im Fach Geschichte abzusetzen. Damit sollte den Schülern das Nachbeten der bisherigen offiziellen Geschichtsschreibung erspart werden, die im krassen Widerspruch zu den sensationellen Enthüllungen der sowjetischen Presse über die jüngere Vergangenheit der UdSSR stand. Was jetzt in sowjetische Schulen gelangt, ist das Ergebnis großangelegter Bemühungen um die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit. In einem vom Schulausschuß der Stadt Moskau erstellten Handbuch für Lehrer wird Stalin zur Last gelegt, zur Beschleunigung der Industrialisierung Millionen Menschen in den unwirtlichen Norden der Sowjetunion verfrachtet zu haben. Wo es an Freiwilligen gefehlt habe, seien Dutzende Lager mit Hunderttausenden Gefangenen entstanden. Aus den Lagerinsassen habe man stumme und fast kostenlose Arbeitskräfte gemacht, leicht anzufordern und zu verlegen. Mindestens fünf Millionen Menschen seien enteignet und nach Sibirien oder in den hohen Norden verschleppt worden.

Während der großen Hungersnot Anfang der dreißiger Jahre, die nach der von Stalin angeordneten Zwangskollektivierung der Landwirtschaft ausbrach, seien „ganze Regionen ausgestorben“, heißt es in dem Handbuch weiter. Die genaue Zahl der Toten sei nicht bekannt, doch würden westliche Wissenschaftler sie auf drei bis zehn Millionen schätzen.