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„Tage und Nächte nach dem 7.Oktober 1989“

■ Kurze Auszüge aus 80 Seiten Gedächtnisprotokollen, die gestern veröffentlicht wurden / Ein junger Mann wurde von einem Polizei-LKW angefahren und überrollt

„Eine Gruppe von etwa 100 Menschen bewegte sich vom Alexanderplatz über die Prenzlauer Allee und Dimitroffstraße und bog in eine Seitenstraße ein. Die Leute gingen ruhig, ohne Sprechchöre, unter Beachtung der STVO auf dem Bürgersteig lang. Von einem 'Rädelsführer‘ war die Gruppe vorher eindringlich ermahnt worden, in keinem Fall, selbst bei Gewaltanwendung durch die Polizei, Gewalt in irgendeiner Form anzuwenden. Wer dafür nicht garantieren könne, wurde aufgefordert, die Gruppe zu verlassen. Nachdem die Gruppe in die Dunckerstraße eingebogen war, wurde diese von beiden Seiten durch Polizeiketten abgeriegelt. (...) Von hinten fuhr ein Wasserwerfer heran und beschoß alle im Kessel Befindlichen. Pfiffe aus den umliegenden Häusern wurden mit einem Wasserstrahl in die Fenster beantwortet. Danach wurden alle auf Wagen geladen und abgefahren. Bittere Ironie: Am nächsten Tag lag am Boden eine nasse DDR-Fahne, die offensichtlich vom Wasserstrahl abgerissen wurde.“ * * *

„Plötzlich wurde auch die Dänenstraße in Höhe Seelower Straße abgeriegelt. Viele Menschen rannten in einen Hinterhof der Dänenstraße. Wir rannten in einen Hausflur. Ohne daß wir geklingelt hatten, baten uns Hausbewohner in ihre Wohnungen. Viele Bewohner schauten aus ihren Fenstern und kommentierten das Vorgehen der Sicherheitskräfte. Sie riefen 'Arbeiterverräter!‘, 'Steuerfresser!‘, 'Wir haben vierzig Jahre lang für dieses Land gearbeitet, und ihr schlagt alles kaputt!'“ „Plötzlich wurde gegen die Tür getreten und die Wohnung aufgebrochen. Wir waren sehr schockiert. Es stürmten Zivilisten in die Wohnung und riefen: 'Na, da sind wir ja alle. Los, alles mitkommen!‘ (...) Alle in der Wohnung Anwesenden, auch der Wohnungsinhaber und seine Tochter, wurden verhaftet. Wir wurden auf einen LO (Lastwagen, d.Red.) der Bereitschaftspolizei verladen.“ * * *

„Nachdem sich ca. 20 Personen auf dem Wagen befanden, 3 Uniformierte aufgesprungen waren, wurde gestartet, und mit uns gemeinsam bewegten sich 5 LKWs in Richtung Emmanuelkirchstraße, Polizeirevier. (...) Auf unserem LKW kamen Gespräche zustande, die die Gründe der Menschen für den Aufenthalt im Bereich Lychener/Ecke Stargarder Straße beinhalteten. Eine Frau erzählte, daß sie in der Stargarder Straße wohne und mit dem Auto unterwegs war. Sie wurde aufgefordert, ihr Auto abzustellen. Beim Aussteigen wurde sie sofort festgenommen und auf den LKW befördert. Einem Mann erging es ähnlich. Er wollte zu seiner Freundin in die gemeinsame Wohnung. Nachdem man ihn vertröstet hatte, 'eine Weile zu warten‘, wurde er ebenfalls grundlos aufgeladen. Eine Mutter, die gemeinsam mit ihrem zwölfjährigen Mädchen unterwegs war, wurde gemeinsam mit der Tochter aufgeladen. Nur zwei von den auf unserem Wagen befindlichen Menschen waren von der Gethsemanekirche gekommen und wollten nach Hause gehen. Alle wurden einfach so, ohne Grund, aufgegriffen.“ * * *

„Am Sonnabend, dem 7.OKtober 89, kam es auf der Schönhauser Allee auf der Fahrspur Richtung Stadtzentrum zu einem schweren Zwischenfall. Gegen 24.00 Uhr fuhren 3 LOs (Lastwagen) von der Ecke Schönhauser Allee/Kopenhagener Straße mit zugeführten Personen los. Einige sprangen während der Fahrt ab und entzogen sich so der Festnahme. 300 Meter hinter der Kreuzung Gleimstraße/Schönhauser Allee sprang ein junger Mann (bekleidet mit einer schwarzen Lederjacke und Stiefeln) vom zweiten LO ab und wurde vom folgenden dritten LO trotz eingeleiteter Vollbremsung angefahren. Er stürzte aufs Pflaster. Die Fahrt des LOs (Kennzeichen VP-00-41-48) wurde über die angefahrene Person hinweg fortgesetzt, so daß er, zwischen den beiden Rädern liegend, überrollt liegenblieb. Von drei Zeugen wurde bisher bestätigt, daß der Verletzte reglos hinter dem Fahrzeug liegenblieb.“ * * *

„In der Nacht vom 7. zum 8.10.89 wurden wir von der Schönhauser Alle, Höhe S-Bahnhof, auf bereitstehende LOs der Volkspolizei zugeführt, ca. 24 Uhr. Als unsere Wagenkolonne (3 oder 4 LOs, wir saßen im letzten Wagen) sich schon in zügiger Fahrt befand, machte unser Wagen eine Vollbremsung, Schönhauser Allee, kurz hinter der Gleimstraße. Unser LO fuhr sofort wieder an, und wir sahen, daß ein junger Mann, bekleidet mit einer schwarzen Lederjacke, von unserem Wagen überrollt (er lag wahrscheinlich zwischen den Rädern), reglos auf der Straße lag. Er wurde von 2 Passanten nach links auf den Bürgersteig geschleift. Wir vermuten, daß er von dem vor uns fahrenden LO gesprungen ist und eventuell von unserem LO (Kennzeichen VP-00-41-48) angefahren wurde.“ * * *

„Als das Fahrzeug hielt und die hintere Klappe geöffnet wurde, erkannte ich sofort, daß wir in der Immanuelkirchstraße waren. Die große Aluminiumeinfahrtstür war weit geöffnet. Ich sah einen etwa 5 bis 8 Meter langen Gang, auf dem etwa 20 Polizisten und 2 bis 3 Helfer der VP (Volkspolizei), mit Gummiknüppeln rechts und links verteilt, eine Gasse bildend, standen. Gleichzeitig brüllten 1 oder 2 Polizisten: 'Los runter, im Laufschritt!‘ und prügelten auf die ersten vor mir los. Dann war ich dran. Die ersten Schläge auf dem Fahrzeug, dann runterspringen, loslaufen, die 'Gasse‘ entlang (vor mir eine junge Frau). Schläge auf den Rücken, Hintern und Oberschenkel. Ich hielt die Arme vor dem Gesicht, kam auf einen Hof, hörte Kommandos: 'An die Wand stellen, Beine breit, Gesicht zur Wand, Arme hoch, Hände an die Wand.‘ Ich sehe beim Laufen drei Garagen, davon eine geöffnet, in der einige Leute breitbeinig stehen. Ich muß mich an ein geschlossenes Garagentor stellen. Immer wieder höre ich, wie Leute geschlagen werden. Ich merke, wie ein Polizist von hinten auf mich zukommt. Er tritt mir gegen die Waden und brüllt: 'Weiter weg von Tor, Beine und Armee weiter auseinander!‘ Ich stehe jetzt ca. 90 Zentimeter von der Wand entfernt. Beine ungefähr genausoweit auseinander, die Arme gestreckt an die Wand gestützt. So stehe ich ca. eineinhalb Stunden. In dieser Zeit werden die Personalausweise eingesammelt und Leute geschlagen, die nicht 'richtig‘ stehen. Man hört Schreie und Hundegebell. (...) Nachdem die eineinhalb Stunden vergangen sind, werde ich aufgefordert, im Laufschritt in die offene Garage zu gehen. Dort werde ich durch eine besonders extreme Körperhaltung gequält. Ich mußte mich an die Wand stellen in 'gewohnter‘ Stellung. Dann kam ein Polizist von hinten und forderte mich mit den Worten 'Wir werden euch Demokratie schon beibringen‘ auf, von der Wand wegzukommen und die Beine noch weiter auseinanderzumachen. (...) Mir wurden Schläge angedroht, falls ich zusammenbräche. Ich brach nach ca. 20 Minuten zusammen. Die Polizisten lachten und sagten, sie seien human, ich dürfe mich hinknien.“ * * *

„Mein Nebenmann hielt nicht durch, brach langsam zusammen, dafür wurde er getreten, durfte sich danach aber als Gnadenakt ('damit sie spüren, wie human wir sind‘) kniend an die Wand lehnen. Auf die Frage eines anderen, ob er auf die Toilette gehen kann, weil er blasenkrank sei, wurde geantwortet: 'Das will ein Deutscher sein? Bettnässer was?‘ Andere hatten sich in die Hose gemacht vor Angst und wurden dafür verhöhnt und beschimpft.“ * * *

„Ich hörte die Schläge und die Schreie des Jungen, dazu bellten die beiden Polizeihunde, die ohne Maulkorb hinter uns angebunden waren. Ein Polizist sagte: 'Wollt ihr wissen, was Demokratie ist?‘ Darauf folgte ein Schlag und ein Schrei. (...) Es folgten noch Bemerkungen wie: 'In den USA hätten sie euch nicht anders behandelt.‘ 'Wir warten, bis Ihre euch in die Hosen geschissen habt, dann können wir mit euch reden.‘ Ich stand da und zitterte vor Angst und vor Kälte.“ * * *

„Ich hatte den Eindruck, daß das Treiben, die Schikane einigen Polis großen Spaß machte. Die Vorgesetzten fotografierten das Geschehen. Es war eine Atmosphäre des totalen Ausgeliefertseins und der Angst.“ * * *

„Während der ganzen Zeit wurde im Prinzip das Vokabular des Dritten Reiches gebraucht, wie 'schwarze Schweine‘ (offensichtlich Mulatten betreffend), 'braungebrannte Mistkäfer‘ usw. Die einzige Ausnahme war, daß der Begriff Jude nicht fiel. (...) Zurück in die Zimmer ging es natürlich im Laufschritt, eine Gruppe im Entengang, und mit einem Punk, den sie den Bunten nannten, wurde das Spiel 'Häschen hüpf!‘ gespielt.“ „Seit ungefähr 30 Stunden hatten wir keine Informationen von draußen, und mir selbst kam es schon fast so vor, als ob im Land ein Putsch der Republikaner stattgefunden hätte. Wir wußten nicht, wie lange das noch alles dauern würde, da von gesetzlichen Maßnahmen ja keine Rede mehr war.“ - „Danach wurde ich zum Verhör zu einer Frau (den Namen durfte ich nicht erfahren) Hauptmann der K. (Kriminalpolizei) - gebracht. (...) Ich mußte begründen, warum ich schwarze Kleidung trage, warum sich an meinem Sweatshirt ein Gorbatschow-Anstecker befindet, warum ich diesen Zettel (aus der Gethsemanekirche) in meiner Tasche habe. Ich wurde gezwungen, eine Erklärung zu schreiben, die beinhaltete, daß ich wisse, daß das Neue Forum verfassungsfeindlich sei und daß ich mit Ordnungswidrigkeitsbestrafung beziehungsweise mit strafrechtlicher Verfolgung zu rechnen hätte, wenn ich die Ideen des Neuen Forums verbreitete oder mich mit ihnen identifizierte.“ * * *

„Spätestens seit dem gestrigen Tag habe ich das Vertrauen zu unserem humanistischen Staat verloren. Ich dachte, daß wir den Militarismus spätestens seit 1949 abgebaut hätten. Für mich gibt es ab Sonnabend nichts mehr zu feiern. Ich glaube, daß 50 Prozent der jetzt Inhaftierten mit dem Gedanken spielen, einen Ausreiseantrag zu stellen.

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