: Gnadenlose Perfektion aus China
■ Frenetischer Beifall bei der Premiere des Chinesischen Nationalzirkus / Bis 11.11. am Grünenkamp
Wie soll man Unglaubliches glaubhaft beschreiben? Vier Frauen balancieren auf einem einzigen schmalen Rollbrett, die mittlere steht auf den Oberschenkeln der beiden äußeren, den Kopf im Nacken und ein langes Mundstück senkrecht in die Höhe
gerichtet. Nur damit, mit dieser Mund-zu-Mund-Achse hält die vierte Kontakt zur Welt unter ihr. Kopfüber, den Rest des Körpers nach hinten weggebogen, beherrscht sie das labile Gleichgewicht in drei Meter Höhe nur mit dem Kiefer. Und zum Hohn und Spott derjenigen, die vor Entsetzen die Augen verschließen, lassen alle vier Frauen bunte Ringe um Hände und Füße kreisen.
Solch Perfektion zeigen auch die ArtistInnen der anderen zwölf Nummern. Ohne den branchenüblichen Pomp, mit der schon sprichwörtlichen Bescheidenheit präsentieren sie dem begeisterten Publikum ein Höchstmaß an Körperbeherrschung. Zwei Akrobatinnen lassen Vasen und Tische nur auf den Fußspitzen durch die Luft tanzen, wechseln ganz nach Belieben Richtung und Tempo, und das mit atemberaubender Präzision.
Wenn es stimmt, daß die Kunst Spiegel der Seele eines Volkes ist, dann wird den ChinesInnen bei der Fähigkeit, Widerstreitendes in der Balance zu halten, niemand das Wasser reichen können. Sie trotzen der Fliehkraft, pfeifen auf die Schwerkraft und nichts deutet auf die lebenslange Askese hin, die dieser mühelosen Umgang mit
der Höchstschwierigkeit voraussetzt. Ein meditatives Verhältnis zur Körperbeherrschung, die Übung als „Gottesdienst“ - so hat Andre Heller, spiritus rector dieser Tournee, die Hingabe der ArtistInnen zu interpretieren versucht.
Und doch gelingt nicht das, was die charmante Conferenciere dem ausverkauften Zelt verspricht: vom eigenen Staunen und den poetischen Phantasien der Manege so gefangen zu sein, daß der Zauber das Ende der Vorstellung überdauert. Respekt und Hochachtung vor diesen Leistungen, ja - aber Rührung und Tagträumerei, der Zirkus als Traumfabrik und Kabinett der Illusionen, das ist es nicht. Picos riesige Seifenblase aus dem Zirkus Roncalli, so einfach wie verblüffend, war Symbol für eine entschwundene Welt. Eine Welt der Sehnsüchte, der kleinen Liebeleien und langsamen Clowns, eine Welt, in der Pfiffigkeit mehr zählt
als Stärke.
Solche Sentimentalitäten sind den ChinesInnen fern. Die ästhetischen Momente, manch choreographisches Beiwerk, die Augenblicke des Winkens und Verbeugens wirken ebenso bemüht wie bei den Weltklasseturnern, die vom aufgesetzten Lächeln eine Aufbesserung der B-Note erhoffen.
Die Übung möge gelingen. Bei der letzten Heller-Tour „Begnadete Körper“ noch Begleitspruch jeder Nummer, fehlte das geflügelte Wort im neuen Programm. Wer so routiniert mit der eigenen Perfektion lebt, braucht fromme Wünsche nicht mehr. Und doch passieren noch Mißgeschicke. In Bremen ereilte das Artistenschicksal die bisherige Hauptattraktion: die kleine Ballerina, die auf dem doppelten Hochseil gewagte Sprünge riskiert, verstauchte sich im Training den Knöchel und muß nun pausieren.
Andreas Hoetzel
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