: Ein Loch in der Mauer, kein Loch im Kopf
■ Während die SED (DDR) ausreisen läßt, läßt die Linke (BRD) noch lange nicht einreisen / Grüne sammeln Spenden gegen Deutschdeutsche
Die kleine Geste hätte genauso gut untergehen können im alltäglichen Nachrichtengetümmel. In einem unscheinbaren Kästchen vermeldete die taz unter der Überschrift „Grüne Spendenaktion“ am 9. Oktober folgenden Einfall des Parteivorstands der Grünen: Mitten in die Fernsehbilder überglücklicher Menschen, die ihrer eingemauerten Heimat den Rücken gekehrt hatten, riefen die Grünen zu Geldspenden für AsylbewerberInnen und Flüchtlinge auf.
Während die Aktion in weiten Teilen der Grünen in gespielter oder wirklicher Naivität als harmloser Appell mißverstanden wurde, über der DDR-Übersiedler-Gerührtheit doch bitte kurdische, libanesische oder iranische Flüchtlinge nicht ganz zu vergessen, reagierten einige Mitglieder der Bürgerschaftsfraktion ungehalten. Sie zeigten dadurch, daß sie begriffen hatten, worum es dem eigenen Parteivorstand gegangen war: Um eine Provokation und um die symbolische Wiederherstellung der linken Solidaritätshierarchien. Mit der Kontonummer 1068824 bei der Bremer Sparkasse (BLZ 29050101) wurde auch die ideologische Ordnung des Internationalismus ge
gen eine überraschende, irgendwie unkalkulierbare und irgendwie auch verdächtige deutsch-deutsche Bahngleisgefühligkeit verteidigt. Die Spendenaktion war auch - zumindest unbewußt - Hilfe zu ideologischer Selbsthilfe in den eigenen Reihen. Ein hektisch verabreichtes Serum gegen eine ratlose, verschämte und doch heftig spürbare Berührung in den privatisierten, ideologisch unzensierten Herzhälften der Linken.
„Mit Erstaunen“, so schrieb Ex-Parteivorstandsmitglied Thomas Krämer-Badoni in seiner Begründung der Spendenkampagne, habe der Vorstand „die Welle nationaler Begeisterung wahrgenommen, die von den DDR-Übersiedlern in der Bundesrepublik ausgelöst worden ist“ und erklärte die eigene Kampagne zu einem „materiellen und symbolischen Gegengewicht gegen die spontane Aufwallung nationalistischer Gefühle“.
Völlig im Sinn der Aktion ärgerte sich der grüne Abgeordnete Martin Thomas wenige Tage darauf in einer Fraktionssitzung „wahnsinnig“ über das „klammheimliche Ausspielen von DDR-Aussiedlern und Asylbewerbern“. Bei aller Zustimmung zu
der Absicht, Flüchtlinge zu unterstützen, so Thomas, seien Begründung und Kontext der Aktion „politisch fatal“. „Peinlich“ und „undifferenziert“, so befand auch die Bürgerschaftsabgeordnete Carola Schumann, sei die Verdächtigung, hinter jeder Spendentüte, jedem Lebensmittelpaket exklusiv für DDR-Übersiedler stecke großdeutschtümelnder Nationalismus.
Was den Streit aus üblichem grünen Parteigezänk und den alltäglichen kleinlichen Eifersüchteleien zwischen Parteigremien heraushebt, ist vor allem seine Notwendigkeit unter Linken. Die Frage, ob man ausgerechnet dann und deswegen zu einer Spendenaktion für AsylbewerberInnen aufrufen kann, als Linker vielleicht sogar muß, wenn zigtausende Deutsche (Ost) Hilfe brauchen und von zigtausend Deutschen (West) auch bekommen, markiert eine Leerstelle linker Ideologie, die mit einer flugs angemeldeten Kontonummer eher kaschiert als gefüllt ist. Hinter vorgehaltener Hand findet an den linken Stammtischen seit den Botschaftsbildern eine heimliche Umwertung aller Werte statt. Plötzlich ist auf einmal von „Wirtschaftsflüchtlingen“ die
Rede, und der Ausdruck ist genauso gemeint, wie ihn Kohl, Zimmermann und Tandler gegenüber Vietnamesen und Tamilen geprägt haben. Lebenwollen ist kein Asylgrund, Überlebenwollen zählt. Das eigentlich Ärgerliche an den zigtausend deutschen Vonvorne-Anfangern ist, daß sie sich den kategorischen Wertepaaren der Linken so partout nicht fügen, sozusagen immer auf beiden Seiten auftauchen: als spießig Widerständige, als angepaßte KritikerInnen, also opportunistische Oppositionelle, nationalistisch Welthungrige.
Aber: Was ist eigentlich nationalistisch, wenn junge Mütter ihre Kinderwagen über Botschaftszäune heben, was ist ungehörig „nationalgefühlig“, wenn zigtausend Menschen, die zufällig das Pech haben, Deutsche zu sein, sich plötzlich am Ziel ihrer Wünsche fühlen, nachdem sie Freunde und Verwandte verlassen haben zugunsten eiskalter Bäder in Grenzflüssen. Was verdächtig „aufwallend“, wenn sie am Bahnsteig empfangen werden von Tausenden, die Suppe gekocht und Decken eingepackt haben. Es scheint, daß Linken vor allem eines an diesen Bildern nicht gepaßt hat. Sie kommen so
zusagen mit dem falschen Paß daher. Bei jedem anderen Flüchtlingszug hätten vermutlich Dritte-Welt-Initativen, Flüchtlingskomitees, Grüne am Bahnhof gestanden und Reden gehalten und Suppe gebracht. Es wären Spendenkonten eröffnet und Soli-Komitees gegründet worden.
Im Falle „DDR“ hat sich die Linke - die DKP ausgenommen seit 20 Jahren damit begnügt, jede Verantwortung abzulehnen. Wenn von Sozialismus die Rede war, mußte ein distanzierender Hinweis genügen: So (wie in der DDR) sei es eben nicht gemeint. Während sich überall in der Welt Gründe entdecken ließen, das eigene Land zu verlassen und sich in die Bundesrepublik zu flüchten, galt für die DDR klammheimlich: Bleibt wo ihr seid! Während nahezu jedes rote Terror-Regime zeitweilig zum gelobten Land der Linken avancierte, setzte sie gegenüber der DDR gleichzeitig auf kleinste Schritte biedersten Reformismus. In Kampagnen für „freie Flüchtlingsstädte“ waren 50.000 DDR-Bürger nicht vorgesehen. Je näher Kurdinnen, Chilenen und Tamilinnen ideologisch rückten, desto ferner rückten Dresdnerinnen, Leipzigerinnen und
Haller. Jetzt, seit sie plötzlich da sind, reagieren Linke auf die eigene Berührtheit angesichts der Bilder deutsch -deutscher Umarmungen mit schlechtem Gewissen: Peinlich ist die plötzliche Berührung, bei der man sich doch erwischt. Sitzt da am Ende doch noch ein verdrängter, unbegriffener und „nationalistisch“ verdächtiger Kern in der internationalistischen Seele?
Das Mittel, mit der ihr zu begegnen ist, lautet Abstraktion. „Richtige“ Gedanken gegen „falsche“ Betroffenheit, universelle Parole gegen individuelle Hilfe, kritische Langzeit-Rationalität gegen spontane Gefühlsduselei. Radikale Abstraktion einmal vorausgesetzt, gleichen sich auch Chilenen und Chemnitzer am Ende wie ein Zuwanderer dem anderen. Und es gilt auch der Umkehrschluß: Jeder verschenkte Wintermantel, den ein DDR-Übersiedler trägt, wird unter der Hand ein Wintermantel weniger, den ein Tamile tragen könnte.
Die Löcher in der Mauer zeigen auch das: In den Köpfen den Linken ist die Mauer noch dicht. Die grüne Spendendebatte könnte der überfällige Anlaß sein, ihre Nützlichkeit zu überprüfen.
K.S.
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