: Das Rätsel der unglaublichen Wende
■ Ostberliner Kulturprominenz traf sich in der Erlöserkirche / Reformen und unabhängiger Untersuchungsausschuß zu den Polizeiübergriffen werden gefordert / Bitteres, Skeptisches und Hoffnungsvolles über die Glaubwürdigkeit der Wende und die Zukunft der DDR
Berlin (taz) - „Auf den Hacken dreht sich die Geschichte um.“ Das lakonische Fazit des Schriftstellers Volker Braun, mit dem er, halb zweifelnd, halb hoffnungsvoll die rasante Wende der letzten Tage zu fassen sucht, markiert das Rätsel, das am Samstag abend in der Ostberliner Erlöserkirche bearbeitet wurde. Eine Republikpremiere zweifellos. Denn unter dem Motto „Wider den Schlaf der Vernunft“ waren mit Christa Wolf, Christoph Hein, Stafan Heym, Heiner Müller, Helga Königsdorfer, Hermlin, de Bruyn alle die gekommen, die schon seit Jahren mit ihrer Literatur gegen die bornierten Verhältnisse und für ihre Veränderung stehen.
Schade vielleicht, daß keiner Aufschluß darüber gibt, warum die künstlerische Creme, die „Kunstwerktätigen“, wie es auf einem Transparent im Altarraum heißt, nicht schon früher kamen, um mit den Unzufriedenen im Land ihren Unmut öffentlich zu machen. Nur Christa Wolf läßt leise anklingen, „daß auch wir Schuld tragen“. Denn die „Fortdauer der Deformation“ liege auch darin begründet, „daß alle gelitten haben wollen - ohne Verantwortung“. Doch die Stimmung unter den 3.000 im Kirchenschiff und denen, die bis nach Mitternacht im Freien mit geduldiger Konzentration der künstlerischen Befragung des Unglaublichen folgen, ist nicht nach Kritik an der jahrelangen Zurückhaltung der Akteure als nach einem Moment der Stagnation zumute. Frenetisch wird der endlose Künstler-Reigen begrüßt, der seine Teilnahme am Aufbruch bekennt, nachdenklich-skeptisch, scharfzüngig, satirisch.
Das „Nachdenken über die schmerzliche Entwürdigung“ der Verhafteten des 7. und 8. Oktober war der eigentliche Anlaß des Abends. Die „Szenen wie aus einem Defa-Film über die Nazizeit“, wie ein Philosophieprofessor die „Gedächtnisprotokolle“ kommentierte, wurden wohl nur deshalb nicht zum atmosphärisch bestimmenden Moment der Veranstaltung, weil mit den Übergriffen der Sicherheitskräfte zugleich die Aufbruchswende eingeleitet wurde. Dennoch markierten die Berichte den noch immer bedrückenden Erfahrungshintergrund, der den Zukunftsoptimismus, die Hoffnung, „daß dieser Frühlings -Herbst in den Winter sommert“, immer wieder korrigierte: Ein vielleicht zwanzigjähriges Mädchen, das für das Kleben von drei Handzetteln für den Neuanfang mehrere Tage unter unglaublichen Demütigungen in U-Haft gehalten wird, berichtet. Neben Fotos und Fingerabdrücken nahmen die Sicherheitskräfte eine „Geruchskonserve“ von ihr und ihrer zwölfjährigen Schwester - als Suchhilfe für die Spürhunde für später. Die alptraumhafte Szene auf der Leinwand über dem Altarraum in der Kirche wird eindringlich: „Nachtvögel der Angst und des Mißtrauens.“
Doch nicht zuletzt die fehlende Regie, die die bedrückende Erinnerung nicht vom Satirischen sondert, sorgt für die Atmosphäre aus Skepsis, Hoffnung und Übermut. Läßt sich die Geschichte wirklich auf den Hacken wenden - die Gesinnung ihrer bisherigen Akteure? „Waren es wirklich bloß drei?“ fragt Stephan Heym in gespielter Naivität nach den Verantwortlichen. Nur Honi, Herrmann, Mittag als einzige prominente Opfer? Beileibe nicht alle sollen jetzt zurücktreten, meint Christoph Hein - aber ein paar mehr könnten darüber nachdenken. „Wie heißt er denn gleich, der jetzt als Honecker auftritt?“ fragt einer in die Runde: „Adam Riese der Wahlrechenkünstler.“ Krenz hat einen schweren Stand an diesem Abend. Von Wendehälsen ist viel die Rede, von Landeslächlern und Chefclaqueuren. Einem, „der jetzt lächelnd die Zähne zeigt, mit denen er noch immer zuschnappen könnte“.
Ein Diavortrag behandelt das Phänomen: Von schräg -hektischen Posaunen begleitet, hasten Karikaturen über die Leinwand: Einer lehrt mit Kreide an der Mauer, 3 x 3 10; in einer Kundgebung, von Ja-Parolen überwogt, versteckt sich ein „Warum?„; am Ende katapultiert eine geplatzte Sesselfeder den bislang Thronenden aus der Geschichte. Geht es an, fragt Heym, daß „die Großredner von gestern“ die „Texte von morgen sprechen?“ Helga Königsdorfer pointiert das Unbehagen an der neuen Gelenkigkeit derer, die „von der Unantastbarkeit des Sozialismus reden und ihre eigene Unantastbarkeit meinen“.
Glaubt man der Stimmung im Kirchenschiff, werden die Gestrigen, die sich schon wieder als Avantgarde zu präsentieren suchen, um die Aufarbeitung ihrer Verantwortung nicht herumkommen. Diejenigen, die den chinesischen Ordnungskräften ein „Danke, Genossen“ zugerufen haben - so der Schriftsteller Holger Teschke -, kennen einzig die „unverbrüchliche Treue zur Macht, die sie jetzt mit Bananen und Pässen zu retten suchen“. Daß diese Rechnung nicht aufgeht, dafür soll die von allen geforderte unabhängige Untersuchungskommission der Polizeiübergriffe nur der Einstieg sein. Daß die Geschichte der Schuld weiter reicht, daß auch die DDR die weißen Flecken nicht mehr ignorieren kann, diese Hoffnung bekundet Christa Wolf. Die Veröffentlichung der Erinnerungen von Walter Janka, der das Schweigen seiner Schriftstellerkollegen brandmarkt, stehe auch für die DDR bevor. Die ausstehende Rehabilitierung des ehemaligen Aufbau-Verlagschefs steht für den Beginn der Stalinismusaufarbeitung.
Die Massenbewegung dieser Tage müsse - so Wolf - auf der rückhaltlosen Analyse des Geschehenen basieren. Daß der jüngste Aufbruch „die Veränderung der Strukturn fordert“, mache Hoffnung. Doch immer wieder wird an diesem Abend die optimistische Perspektive an der Erinnerung gebrochen, gelehrt. Einer erinnert an Honeckers Antritt, die Flötentöne und Versprechungen: „Keine Tabus“. Diesmal, so die Konsequenz dessen, der sich „heute achtzehn Jahre klüger“ weiß, „dürfen wir nicht mehr hoffen, sondern müssen fordern“.
Solange sich die Menschen in den Händen derselben Macht befinden, so Günter de Bruyn, herrschen feudale Zustände. Er fordert Gewaltenteilung. Ansonsten bleibe der Bürger in der Rolle des Bauern, der gegen seinen Gutsherrn klagt und diesem dann als Richter gegenübersteht. Die Wende der Medien bleibt, weil von oben verordnet, suspekt: auf Befehl eingeführt, kann sie auf Befehl zurückgenommen werden. Überzeugen würde de Bruyn eines der Erlebnisprotokolle, abgedruckt im 'ND‘, flankiert von einem „Lob der Verweigerung“ - ein Bericht über die Polizisten, die am Abend des 7. Oktober den Einsatz verweigerten und dafür bis heute im Militärgefängnis sitzen.
Klarheit über das Rätsel der Wende, ihre Perspektive oder Verkehrung konnte auch die Nacht in der Erlöserkirche nicht bringen. Ob das Land für immer aufhört, „im dröhnenden Gleichschritt zu marschieren“, ob es statt dessen bald „in leichten Schuhen tanzt“? „Vielleicht“, macht Helga Königsdorfer Hoffnung, „fragt man uns später nach diesem gläsernen Herbst, als die Minister erfroren“.
Doch Königsdorfers poetische Härte trifft nicht ganz die Hoffnung derer, die auch nach Mitternacht noch den nicht endenden Vorträgen zuhören. Trotz ihrer Überzeugung, daß die Machthaber vom löchrigen Gedächtnis ihrer Untertanen leben, trotz ihrer Forderung nach Konsequenzen der politisch Verantwortlichen für Stagnation, Exodus und Polizeibrutalität bleibt ein versöhnender Unterton, eine, wenn auch vielfach gebrochene Hoffnung auf die Glaubwürdigkeit der unglaublichen Wende. Trotz aller Bitterkeit spürt man an diesem Abend auch die Bereitschaft, noch einmal gemeinsam zu fragen, „was Sozialismus eigentlich sein könnte“.
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