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Panzer gegen Perestroika

■ Berg-Karabach und die armenische Geschichte - Eine Dokumentation

Wer nicht versteht, warum die armenischen Enklave sich so 'borniert nationalistisch‘ gegen die Eingliederung in die aserbeid- schanische Sowjetrepublik sträubt und warum sie damit Gorbatschows strudelndes Perestroika-Schiff noch mehr ins Schlingern bringt, kann sich jetzt zum Verstehen helfen. Wer nicht versteht, warum die Sowjetrepublik Aserbeidschan die Verkehrswege zur Sowjetrepublik Armenien blockiert, warum Medikamente, Fertighäuser, Baumaterialien für die katastrophengeschüttelten ArmenierInnen nicht ankommen und Lebensmittel für sie an der Grenze verrotten, warum Berg -Karabach seit Juni 1989 abgeriegelt und nur noch aus der Luft versorgt wird, wer nicht versteht, weshalb wegen eines lächerlichen 'Nationalitätenzwistes‘ ein Massensterben droht, das die Völkermorde an den ArmenierInnen fortsetzen würde, kann sich jetzt informieren. Der Bremer Donat Verlag, in dem schon etliche wichtige Armenienpublikationen erschienen sind, hat gerade eine Dokumentensammlung herausgebracht, die historisches Licht auf die Fragen wirft.

In einem aktuellen Teil werden unter anderem Zeugenaussagen über das Pogrom vom 27. bis 29. Februar 1988 dokumentiert, ebenso wie - wenig bekannt - Zeugenaussagen über die Vergif

tung von 60 armenischen Arbeiterinnen durch ihre aserbeidschanischen Kolleginen und die Verhaftungswelle in Sowjet-Armenien im Dezember 1988 nach dem Erdbeben. Der erste, historische Teil versammelt Quellen, die auf die Verweigerung der Autonomie durch den Anschluß der Enklave Berg-Karabach an Aserbeidschan 1921 als Ursache der Konflikte bis heute hinweisen.

„Wir gelangten zur Oktoberrevolution ,“ schreibt die sowjetarmenische Lyrikerin Silwa Kaputikjan in einem Offen Brief an ihre Kollegen aus dem sowjetischen Schriftstellerverband vom 5. April 1988, “ nach dem Genozid des Jahres 1915, nachdem wir die Hälfte unseres Volkes verloren hatten sowie einen Großteil unseres angestammten Landes, von der ganzen Welt verlassen, körperlich und geistig niedergeschmettert. Doch als wäre das alles noch zu wenig: nach der Errichtung der Sowjetmacht in Armenien wurde von dem uns verbliebenen Waisenanteil noch Nachitschwan und Berg-Karabach abgetrennt. Und so wurde auch der noch mehr oder weniger verbliebene einheitliche Teil eines verstreuten Volkes in zwei Hälften zerschlagen.“ Schuld an dem konflikttreibenden Akt ist, so Silwa Katikjan, Lenins Rücksichtnahme auf die Interessen der „revolutionären Türkei“ unter

Kemal Atatürk gewesen und die Bosheit Stalins.

Sie selbst, berichtet sie, habe auf dem Theaterplatz von Jerewan in einer Rede die erregten Menschen zur Vernunft aufgerufen und dazu, eine gerechte Lösung der Frage geduldig abzuwarten. Man habe ihr zugerufen: „Seit dem vierten Jahrhundert fassen wir uns in Geduld! Wielange sollen wir denn noch geduldig sein?“

Auch in diesem Fall scheint der Kaputikjan die Aufklärung nötig, daß die Unzufriedenheit und Verzweiflung der Menschen in Karabach und Armenien nicht von auswärts angeheizt wird, „nicht von verschiedenen Radiostimmen oder einer ausländischen Agentur, sondern durch die Ungerechtigkeit des Jahres 1921 sowie durch die ständige Präsenz ihrer

Folgen in der Seele eines jeden Karabachers...: zum einen handelt es sich um die Kränkung und Erbitterung wegen der gewaltsamen Abtrennung vom eigenen Volk und um das unwandelbare Bestreben, mit ihm vereint zu werden...; zum anderen um beharrliche, unschöne Versuche, auf jegliche Weise die geistige Verbindung der Karabacher mit Armenien zu zerschlagen und zu zerreißen.“

Uta Stolle

Panzer gegen Perestroika. Dokumentation zum Konflikt in und um „Arzach“ („Karabach“). Hgg. v.d. Armenischen Kolonie zu Berlin e.V./Armenisch-Apostolische Kirchengemeinde Berlin und Verband Armenischer Vereinigungen im Dt.sprachigen Raum. Einl. v. Tessa Hoffmann. Donat Verlag Bremen, 19.80 DM.

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