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Geburtsstunde einer Opposition

■ Rainer Schedlinski korrigiert seinen Artikel „Gibt es die DDR überhaupt“ vom 7.10.89

Vor drei Wochen noch schrieb ich: “...es scheint als gebe es in der DDR keine oppositionelle Basis - außer vielleicht einer Partei der Ausreisewilligen.“ Inzwischen weiß ich es besser.

Wer am 7. und 8. Oktober abends auf der Schönhauser Allee war, konnte erleben, was man in dieser Nischengesellschaft nicht mehr für möglich hielt: die spontane Verbrüderung von Kirchgängern und Taxifahrern, von Studenten und Knuffern, von Punks und Parteimitgliedern, jeder friedvoll eine Kerze in Händen haltend. Wer hätte der ewig nörgelnden DDR -Bevölkerung solche Eintracht zugetraut? Vielleicht aber waren die Leute auch von sich selbst überrascht.

Ich denke, was hier plötzlich auf der Straße - und in Leipzig sicher noch viel eindrucksvoller - sichtbar wurde, war eine Art zweite Realität dieses Landes. Noch nie war die Sprachlosigkeit so körperlich und so unmittelbar; man mußte die Tatsachen nur mehren durch sich selbst, um sie aus der Konspirativität des Hinterkopfes auf die Straße zu holen, als stünde dann eine andere Wirklichkeit vor Augen, von der Jeder immer wußte, sie aber ihrer hoffnungslosen Unsichtbarkeit wegen nie beweisen konnte.

Anwohner, Leute, wie sie mir beim Einkaufen begegnen, kamen herunter und solidarisierten sich mit den vor der Kirche von der Polizei umstellten Menge, redeten auf die Uniformierten ein und verwickelten dabei manch erfahrenen Beamten in komplizierte Dialektik des Gewissens, bis die Menschen hinter den Absperrungen mehr waren, als die Eingekesselten selbst, und schließlich die Schönhauser Allee fast auf ihrer ganzen Länge beidseitig abgeriegelt wurde.

Wer dann die anrückenden zivilen Greiferkommandos sah, wie sie in die Hände spuckend aus ihren Bussen stiegen, wie sie in die von viehisch knüppelnden Spezialeinheiten in Schach gehaltene Menge stürzten, um wahllos welche herauszugreifen und auf die LKWs zu zerren. Wer wie ich gesehen hat, wie eine Frau, die schon minutenlang regungslos am Boden lag, von mehreren Zivilen abwechselnd in den Bauch getreten wurde, wer gesehen hat, wie Einige zwanzig, dreißig Meter an den Haaren übers Pflaster geschleift wurden, für den war Staatsfeindlichkeit von nun an keine Frage der politischen Gesinnung mehr, sondern schlicht eine Frage der Moral.

Dabei wurde von den Demonstranten kein einziger Stein geworfen, nicht eine Fensterscheibe ging kaputt, kein Müllkübel kippte um, und kaum ein Autospiegel wurde von den Flüchtenden verbogen. Der Generalstaatsanwalt warnte am 15.10., nachdem Kurt Hager den Dialog erfunden und Egon Krenz die Wende ausgerufen hatte, in der nun unglaublich offenen Presse vor Verleumdungen der Polizei und zitierte einige Vorstrafenregister von Inhaftierten, um, wie er sagte, „einfach mal zu zeigen, was da so für Leute auf der Straße waren“. „Manche haben ihre Kinder wie Schilde vor sich her getragen“, schreibt die „BZ am Abend“. War die Presse vorher einfach nur stur und ignorant, ist sie nunmehr infam. Noch sieht es so aus, als sei zwar das Schweigen gebrochen, nicht aber der Beton in den Köpfen der Macht.

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