Schnittmusterbögen und Klebebilder

■ Am 1. November 1889 wurde Hannah Höch in Gotha geboren. Eine Erinnerung

Henrike Hertz

Sie malte gegenständlich und abstrakt, konstruktiv und expressiv. Sie verwandte Ölfarbe und Kugelstift, Foto und Schnittmusterbogen: Hannah Höch, geboren am 1.November 1889 in Gotha, ist eine eigenwillige Vertreterin ihrer KünstlerInnengeneration. Alle erdenklichen Stilformen und Techniken benutzte sie, und sie arbeitete daran zur selben Zeit. Es gibt deshalb auch keine rosa, blaue oder geometrische Phase und auch wenig Hinweise, aus welcher Zeit ein Bild, ein Druck stammt. Nur einige Collagen verraten eindeutig, daß sie nach dem Krieg entstanden sind, denn erst da gab es eine Farbfotografie, die Hannah Höch schnell aufgriff.

Sie selbst vermutete, daß die Vielfalt ihrer Arbeit den großen Erfolg verhinderte, ein einziger charakteristischer Zug „wohl leichter zur Popularität“ geführt hätte. Doch ihr lag mehr daran, ihre „Lebens- und Arbeitsform immer weiter zu entfalten, zu verändern und zu bereichern“. Sie nimmt es hin, wenn ihr Freund und Zeitgenosse Theo van Doesburg, der das Tafelbild 1923 in einem Manifest verdammt, über ihre traditionellen Zeichnungen spottet.

Doch mit einem anderen Künstler verbindet sie gerade die akademische Schule: „Heute denkt man bei Schwitters nur noch an seine Klebebilder. Aber ich erinnere mich, oft mit ihm im Freien gearbeitet zu haben. Dann malten und zeichneten wir ganz naturalistische Landschaften, und das war wie die Fingerübungen eines Pianisten, die im Konzert nie gespielt werden.“

Bekannt wurde sie in der Tat durch weniger Traditionelles: Sie gehörte der Berliner Dada-Bewegung an. Genau aus diesem Grund interessieren sich KunsthistorikerInnen ab den späten fünfziger Jahren erneut für sie, sie reagiert genervt auf das Spektakel: „Ich kann das Wort Dada nicht mehr hören, aber die Leute wollen ja derzeit nichts anderes.“ Ohne Frage, Dada hat sie geprägt. Die Züricher Bewegung war das Vorbild, 1917 greift sie auf Berlin über. Hannah studiert noch. Vieles, was sie damals in der Kunst entdeckt, behält sie ihr ganzes Leben lang bei. Vor allem die Fotomontage: „Die mit Dada geborene Collage hat dann später nie aufgehört, mich zu fesseln.“ Und der Surrealismus. Max Ernst verehrt sie, nachdem sie eine Ausstellung von ihm sah.

Hannah Höch, genauer: Johanna Höch, kam aus „gutbürgerlichen Kleinstadtverhältnissen“. Sie ist das älteste von fünf Kindern, ihr Vater Subdirektor einer Versicherungsanstalt. Die Mutter war vor der Ehe Vorleserin bei zwei adeligen Damen. Die Eltern erziehen Hannah nach Theorien von Pestalozzi und Fröbel, bereits als Kind lernt sie, Bilder aus gummiertem Papier zu kleben. Neben der Arbeit im Büro des Vaters besucht sie Abendkurse in Malerei. 1912 geht sie an die Kunstgewerbeschule Charlottenburg - ein Kompromiß. Als der Krieg ausbricht, wird die Schule geschlossen, und Hannah arbeitet in Gotha beim Roten Kreuz. Doch schon 1915 kehrt sie nach Berlin zurück und studiert jetzt bei Emil Orlik. Im selben Jahr lernt sie Raoul Hausmann kennen, den späteren Dadasophen. Er ist verheiratet, hat eine Tochter, dennoch beginnen beide eine Liebesbeziehung. Sie sind gleichermaßen fasziniert vom Expressionismus und arbeiten eng zusammen. 1918, während eines Urlaubs an der Ostsee, entdecken sie das Prinzip der Fotomontage. Auf die Idee brachten sie preußische Regimentsfotografien, bei denen die Köpfe der Soldaten einfach nur eingesetzt wurden.

Hannah, die drei Tage pro Woche beim Ullstein-Verlag arbeitet, da der Vater ihr Unterhalt verweigert, fügt bald auch Schnittmusterbögen zu „Klebebildern“ zusammen, wie sie die Collagen damals nannte. Nach den Linol- und Holzschnitten, die sie bei Emil Orlik entwarf, entstehen abstrakte Kompositionen mit der Ziffer 5 und ihre Dada -Puppen, Marionetten ähnliche Phantasiefiguren. Mit ihnen ist sie 1920 bei der Dada-Messe, der ersten großen Ausstellung der Gruppe vertreten. Dort zeigt sie auch ihre Collage Schnitt mit dem Küchenmesser - Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands, eine ihrer bekanntesten Arbeiten. Sie ist ein Zusammenschnitt zahlreicher Fotos von Politikern und bekannten KünstlerInnen jener Zeit, umgeben von Zahnrädern, Kugellagern und anderen Attributen der technischen Revolution. Ähnlich wie die russischen Futuristen thematisiert Höch den Zusammenhang zwischen Industrialisierung und resultierenden gesellschaftlichen Prozessen. Zugleich weist sie darauf hin, daß der Erste Weltkrieg die politischen und sozialen Bewegungen (die der Suffragetten, Anarchisten, Spartakisten...) lahmlegt, absorbiert. Nicht jedoch Dada: seine Vertreter polemisieren weiter gegen Militarismus und Krieg.

An den spektakulären dadaistischen Auftritten der anderen Gruppenmitglieder beteiligt sich Hannah Höch jedoch nur ein einziges Mal: 1919 wirkt sie mit Topfdeckel und Kinderknarre bei einer Dadasoiree mit. Auf dem Programm: ein Simultanorchestergesang mit infernalisch-bruitistischem Orchester. Sie fühlt sich dabei nicht besonders wohl.

In ihren Bildern ironisiert sie bisweilen die Macher der Bewegung (Johannes Baader, Richard Hülsenbeck, Hans Richter und natürlich Raoul Hausmann). Hausmann erscheint beispielsweise im Schnitt mit dem Küchenmesser... mit aufgerissenem Mund und einer riesigen metallenen Gedankenblase, vermutlich einem Tank. Den Kopf montiert sie auf einen Taucheranzug, mit dem er gedrungen und völlig unbeweglich wirkt.

Hannah Höch ist die einzige Frau in der Berliner Dada -Riege. Hans Richter beschreibt sie als „Vorsteherin der Atelierabende bei Hausmann“, bei denen sie Bier, Kaffee und belegte Brote „hervorzauberte“. Ihr Kommentar: „Zaubern konnte ich nicht, ich habe gearbeitet.“ Hausmann war für sie wichtige Kontaktperson zur Gruppe. Doch während er in der Zeitschrift 'Die Erde‘ eine „Ablösung der Besitzrechte des Mannes an der Frau“ propagierte, hinderte er sie gleichzeitig daran, eigenständige Kontakte zu den anderen Dadaisten aufzubauen. 1922 trennten sich Höch und Hausmann. Sie bezeichnet ihn rückblickend als Ungeheuer, die Zeit mit ihm als eine schmerzliche. Zweimal war sie schwanger und trieb das Kind gegen seinen Willen ab. Sie engagierte sich zeitweise in Kampagnen gegen den Paragraphen 218.

In vielen ihrer Bilder, besonders in den Fotomontagen, verspottet sie männliche und weibliche Geschlechtsstereotype, so in Die starken Männer (1931). Frauen erscheinen oft zerstückelt, maskenhaft, wie eine Karikatur mit übergroßen Köpfen, grinsenden, verzerrten Fratzen. Attribute weiblicher Schönheit, lange Wimpern, Haar oder Beine wirken so isoliert geradezu verunstaltend. Die Titel Die Süße (1926), Die Kokette (1925) unterstreichen ihre Aussage. Demgegenüber zeigt das Gemälde Roma (1925) und auch der Schnitt mit dem Küchenmesser... eigenständige Frauenpersönlichkeiten wie Käthe Kollwitz oder Asta Nielsen, die Mussolini inRoma von der Bildfläche weist.

1927 vollendet sie Die Braut, eine Figur mit riesigem Babykopf und Kulleraugen, die zu beflügelten Symbolen aufschaut: einem Apfel mit Schlange, einem weinenden Auge, einem saugenden Kind an der Mutterbrust, einem Herzen, daß von einer schweren Kette umschlossen und mit einem großen Stein beschwert ist. Der Bräutigam ähnelt Hausmann, das Paar steht auf einem Podest. Sowohl dieBraut als auch Roma enthalten einzelne Fragmente. Höch überträgt hier die Struktur der Collage auf die Malerei.

Eine enge Freundschaft verbindet Höch mit Kurt Schwitters. Sie gestaltet zwei Grotten in seinem Merz-Bau in Hannover. Das Verhältnis beschreibt sie im Nachhinein als gleichberechtigt, kameradschaftlich, ebenso wie das zu Hans Arp. Auf Anregung Schwitters hängt Hanna das zweite „h“ ans Ende ihres Vornamens. Nun ist ihr Name von vorn und hinten gelesen identisch, wie „Anna“ in Schwitters Gedicht Anna Blume. Über Nelly und Theo van Doesburg lernt sie die Schriftstellerin Til Brugmann kennen, mit der sie von 1926 bis 1935 zusammenlebt. Im Jahr der Trennung geben sie ein Buch heraus, die GroteskensammlungScheingehacktes. Höch litt unter dem Geltungsdrang Brugmanns. Sie lernt den sehr viel jüngeren Pianisten Kurt Matthies kennen, den sie 1938 heiratet: „Er brauchte damals eine Mutter und ich einen Sohn“, sagt sie später.

Ab 1932 emigrieren die meisten ihrer Bekannten und engsten Freunde. Eine Ausstellung im Dessauer Bauhaus wird verboten. Hannah Höch kauft 1938 ein Haus in Heiligensee, am Rande der Stadt, wo sie niemanden kennt. Dort lebt sie zunächst mit Matthies zusammen, ab 1942 aber allein. Sämtliche Kunstschätze ihrer Kollegen, die sie in den Jahren zuvor angesammelt hatte, bewahrt sie dort vor dem Zugriff der Faschisten, zum Beispiel den Mechanischen Kopf von Hausmanmn. Sie überlebt malend, der eigene Garten bewahrt sie vorm Verhungern. Bereits 1945 stellt sie erneut in zwei Berliner Galerien aus.

Nach dem Krieg entstehen die ersten farbigen Fotomontagen, auch eine Mappe mit surrealistischen Gedichten und Collagen. Weiterhin malt und zeichnet sie, aquarelliert und druckt sie unermüdlich. Einen Überblick über die zahllosen Arbeiten zu gewinnen ist unmöglich. Ausstellungen in Berlin, Paris, New York, London, Kyoto, aber auch Kassel, Bielefeld und Erlangen folgen. 1961 ist sie zu Gast in der Villa Massimo, 1965 wird sie an die Akademie der Künste in Westberlin berufen.

„Ich habe alles gemacht“, sagt sie, „und mich um Handschrift und Merkmale nicht gekümmert.“ 1975, drei Jahre vor ihrem Tod, antwortet sie auf die Frage, welches die großen Themen ihres Werkes seien: „Das Leben. Symbole für Wachsen und Vergehen, für Liebe und Haß, für Verherrlichen und Verwerfen, aber auch die Suche nach Schönheit, im besonderen nach versteckter Schönheit.“

Die Berlinische Galerie zeigt vom 24.November 1989 bis zum 14.Januar 1990 eine Gedenkausstellung mit Collagen und Gemälden.