: Schubkraft Widerspruch entdeckt
■ Gestern begann der Kongreß der DDR-Philosophen / Heftige Debatte im Vorfeld / Die Philosophen lernen schnell: Aus der Nähe zur Macht werden sie in „eine politische Krisensituation“ geschleudert
Berlin (taz) - Eine „enorme Verschärfung der Widersprüche“ bis hin zu einer „politischen Krisensituation“ wurde in dem Eröffnungsreferat vor dem VII.Philosophie-Kongreß der DDR konstatiert. Es sprach Alfred Kosing, Vorsitzender der Vereinigung der philosophischen Institutionen der DDR. Auf dem Kongreß in der Ostberliner Kongreßhalle werden 900 Teilnehmer drei Tage lang in elf Arbeitskreisen und im Plenum über „Fragen der gesellschaftlichen Umgestaltung“ beraten.
Den DDR-Philosophen war bisher ein besonders enges Verhältnis zur Macht eigen. Erich Hahn, Direktor des Philosophieinstituts der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, erklärte dazu erst vorgestern im 'Neuen Deutschland‘: „Den Sinn meiner Tätigkeit als Philosoph habe ich sehr stark darin gesehen, Politik durchzusetzen, sie zu verteidigen...“ So philosophierte er auch. Jetzt machen sie - wie alle Teile der Gesellschaft enorme Lernprozesse in kurzer Zeit.
So hatte Kosing, eigentlich eher ein kritischer Geist, noch in der Samstagsausgabe des 'ND‘ behauptet, es handle sich nicht um „angebliches Versagen des Sozialismus, um seine Existenzkrise, sondern darum, daß der bisherige Entwicklungsweg weitgehend ausgeschöpft“ ist. Darauf antwortete ihm in der gestrigen Ausgabe Professor Reinhard Mocek aus Halle, mit dieser Auffassung werde ignoriert, daß lange schon die herrschende Politik „die Akteure selbst zum Objekt degradiert hat“. „Auch bei uns wurden grundlegende Fragen der Entwicklung einer sozialistischen Demokratie, der persönlichen Freiheit und der Menschenwürde gröblichst mißachtet.“ Mocek darauf: „Wir brauchen eine Wiederbelebung der gesellschaftstheoretischen Kultur in unserem Lande, nicht aber eine Art Schadensabwicklung mit scheinbar bewährten Vokabeln.“
Die FDJ-Zeitung 'Junge Welt‘ bereitete in ihrer gestrigen Ausgabe in zwei Artikeln auf den Philosophenkongreß vor. Frank Richter monierte, daß der Widerspruch in der SED -Ideologie zum Synonym für „Schwierigkeiten, Mängel und Fehler“ heruntergekommen war. Unter Hinweis auf die Naturwissenschaften postulierte er, daß es „immer mehrere Möglichkeiten (Modelle) gibt“. Deshalb sei eine diskutierende und kritische „Öffentlichkeit“ unbedingt notwendig. „Öffentlichkeit ist nicht nur eine 'Zutat‘, sondern Existenzbedingung für eine Entwicklung, die von allen getragen werden kann.“ Als Beispiel für fehlende Öffentlichkeit und nur vorgespielte „Einstimmigkeit“ nannte der Professor für dialektischen und historischen Materialismus an der Bergakademie Freiberg dann das Wahlsystem, das „vor unserem Volk und vor großen Teilen der Weltöffentlichkeit unglaubwürdig“ geworden ist. Schubkraft Widerspruch titelte das Blatt seinen Beitrag.
Klaus Höpcke schließlich, stellvertretender Kulturminister der DDR, machte in einem Artikel über „Kontinuität und Diskontinuität“ darauf aufmerksam, daß die SED in ihrem Programm von 1976 den Widerspruch, „eine der Grundkategorien marxistisch-leninistischer Gesellschaftswissenschaft“, einfach vergessen hatte. Sie kamen „nicht einmal als Begriff, als Wort vor“.
Ob es den Philosophen gelingt, auf ihrem Kongreß den Anschluß an die widersprüchliche Realität ihrer eigenen Gesellschaft zu gewinnen, darauf ist nicht nur Klaus Höpcke gespannt.
Walter Süß
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