piwik no script img

Brigade Karl Marx

■ Text und Fotos von Ludwig Rauch

Brigade „Karl Marx“ hatte es gewußt. Schon am ersten Tag in ihrem Betrieb hatten sie mir gesagt: „Wenn Du das hier richtig zeigst, erscheint es nie!“

Im Auftrag der DDR-Illustrierten 'NBI‘ ('Neue Berliner Illustrierte‘) fotografierte ich über ein halbes Jahr die Brigade „Karl Marx“. Sie arbeitet in der VEB Elektrokohle in der Lichtenberger Herzbergstraße, einem der ältesten Berliner Betriebe. 1901 wurde der Betrieb von der Firma „Gebrüder Siemens & Co“, kurz „Gesco“ als neue moderne Produktionsstätte von Kohleelektroden für die Herstellung von Calciumcarbid und später für die Erzeugung von Stahl in Lichtbogenöfen gegründet. Der Glanz der alten Zeiten ist zu staubiger, morscher Produktionsrealität für die rund 300 Elektroköhler geworden.

Als Alleinhersteller technischer Kohle in der DDR ist die Produktionskapazität in den letzten vier Jahrzehnten bis an die Grenze der Belastbarkeit ausgefahren worden. Die Maschinen sind fast 100 Jahre alt, neu investiert wurde kaum. In den siebziger Jahren wurde dann vollständig auf Verschleiß gewirtschaftet. Die Fabrik sollte, auch aufgrund ihrer hohen Umweltbelastung, außerhalb Berlins neu errichtet werden. Die Wirtschaftsplaner um Günter Mittag stellten damals jedoch fest, daß Vorhandenes ja auch genügt und strichen den Neubau aus ihrem Fünfjahresplan.

Mit Pappmasken vor dem Mund, die wohl eher einen symbolischen Wert haben, kämpfte Brigade „Karl Marx“ gegen Staub und Hitze um die Normerfüllung. Die Schaufel ist Arbeitsgerät Nummer Eins. Die zerbrechlichen Kohlestäbe werden per Hand in die Öfen gelegt und zugeschaufelt. Nach dem Brennvorgang müssen die Öfen zwölf Stunden abkühlen. Doch bereits nach der Hälfte der Zeit schaufelt der Kollege „Fite“ die noch glutheiße Staubschicht von den Kohlestäben.

Mit spitzen Fingern werden die Stäbe herausgehoben und per Karre abtransportiert. Sicherheitsvorschriften existieren nur auf dem Papier, die Arbeiter riskieren Brandverletzungen, denn Zeit ist Geld. Würden sie sich an die vorgeschriebene Zeit halten, wäre Normerfüllung Utopie. Die Absauganlagen gegen den feinen Kohlestaub sind defekt. Eine Reparatur wäre sinnlos, die Anlagen sind völlig veraltet. Die Kollegen der Brigade „Karl Marx“ sind Spitzenverdiener im Betrieb, bezahlen aber mit ihrer Gesundheit. Eigentlich darf keiner von ihnen länger als fünf Jahre in der Brennerei arbeiten, da sonst schwere Gesundheitsschäden durch die extreme Staubbelastung nicht auszuschließen sind. Viele absolvieren ihren harten Arbeitstag aber bereits seit 10 bis 15 Jahren.

Als ich damals meine Fotos in der Redaktion auf den Tisch legte, wurden sie vom Chefredakteur mit rotem Signalstift diagonal gezeichnet. Darüber stand: „Veröffentlichung verboten!“ Die Brigade „Karl Marx“ hatte recht behalten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen