: Angst vor dem großen Raum
■ Europas Inseln: Fusionsungeeignet und daher etwas verloren, fürchten sie, auf dem Binnenmarkt ins Schwimmen zu geraten
Teil 35: Alexander Smoltczyk
Inseln sind geologische Unpäßlichkeiten, immer etwas verloren im Raum und wohl auch in der Zeit. Ringsumher nichts als sinn- und zeitlos schwappendes Meer - wie sollte da der Insulaner nicht überzeugt sein, vom Gang der Geschichte ausgeschlossen zu sein? Insulaner sein heißt, eine tragische Existenz zu führen, sagte der korsische Philosoph Jean-Toussaint Desanti. Ob sich daran jetzt etwas ändern wird, wo nach all den Korsaren, Kolonisatoren und Touristen die EG-Beamten übers große Wasser kommen, ist mehr als fraglich. Denn auch in einem Großraumbüro und Hypermarche mit Namen „EG-Europa“ wird es Gebiete geben, die - nach wie vor - isoliert bleiben werden: Europas Inseln, von La Reunion im Süden bis Falster im Norden, von Madeira im Westen bis Kreta im Osten.
Manchen der dreihundert europäischen Inseln mit mehr als dreihundert Einwohnern steht das Wasser bereits bis zum Hals - sozusagen. „Die Logik der Integration“, so Korsikas Europa -Abgeordneter Max Simeoni, besteht darin, durch Entgrenzungen, also durch Liberalisierung, Deregulierung und internationale Arbeitsteilung, die Konkurrenz zu verstärken. „Die insulare Logik steht dem völlig entgegen.“ Die EG betreibt die transnationale Vereinheitlichung von industriellen Sektoren - die Inseln wollen gerade die Diversifizierung. Ihre Welt ist die der kleinen Räume, in denen insulare Traditionen und Clandenken nicht selten entscheidender sind als kontinentale Zweck-Mittel -Relationen.
Inseln sind von Natur aus fusions-unfähig. Alberto Joao Jardim, Präsident der autonomen Region Madeira, wo das Pro -Kopf-Einkommen bei 15 Prozent des EG-Schnitts liegt: „Die Ressourcen der Inseln sind im Normalfall nicht dazu in der Lage, eine wirtschaftliche Entwicklung wie auf dem Kontinent zu erlauben.“ Auf den kleinen Inseln können keine großen, EG -fähigen Unternehmen entstehen.
So steht und fällt die Inselökonomie mit der Anbindung ans Festland. Das war nun solange kein Problem, als die vorindustrielle Welt sich noch in ozeanischen Geschwindigkeiten bewegte und der Seeweg als sicher und praktisch galt. Erst Schiene und Straße stießen die Inseln ins Abseits, wo sie seither ihr Dasein fristen. Wegen der hohen Transportkosten und den Schwierigkeiten bei der Zulieferung sind Inselprodukte in der Regel teuer - sofern die Mehrkosten nicht von den Insulanern oder deren Zentralregierung getragen werden. Trübe Aussichten für das nach 1992 zu erwartende Binnenmarkt-Gerangel.
Um Rat zu halten und ihre Isolation zu überwinden, trafen sich Ende Oktober Europas Insulaner in Ajaccio auf Korsika. Ein Blick ins Publikum zeigte, daß es bei so viel Mannigfaltigkeit schwer sein wird, eine gemeinsame Politik gegenüber der EG-Integration zu finden. Neben balearischen Vogelschützern, sardischen Senatoren und korsischen Transportunternehmern mit Ring im Ohr stand da etwa der nadelgestreifte Mister Collin Powell aus Jersey, dem Steuerparadies vor der normannischen Küste. Jersey ist wohl das einzige Eiland, daß 1992 nicht zu fürchten hat. 90 Milliarden Mark sind auf dieser Schatzinsel deponiert, denn: „Well, wir sind nicht der Westminster-Regierung, sondern direkt der Krone unterstellt. Deswegen können wir unsere Einkommenssteuer auf zwanzig Prozent senken und die Mehrwertsteuer ganz abschaffen“, erklärt Powell, Chefökonom der Insel. Auch Brüssel kann da keinen Einspruch erheben, denn Jersey hat sich, ebenso wie die Schwesterinsel Guernsey, zwar dem Zollraum Europa angeschlossen, nicht jedoch den übrigen Paragraphen der Römischen Verträge. Jerseyaner werden also auch nach 1992 innerhalb der EG als Ausländer behandelt werden und haben keinen Anspruch auf Fördermittel - die sie nach 700 Jahren als Steuerparadies auch gar nicht nötig haben.
Zwar haben auch die Kanaren versucht, ihre geographischen Nachteile durch fiskalische Vergünstigungen für ausländisches Kapital wettzumachen - jedoch mit zweifelhaftem Erfolg. Die Firmen ließen sich gerne anlocken, speisten aber die Kanaren mit drittklassigen und prekären Jobs ab und transferierten die Gewinne in andere Landstriche, vielleicht ja nach Jersey.
Industrie ist wasserscheu
Der Versuch, mit EG-Geldern Industrien auf die Inseln zu locken, hat sich, so mußte in Ajaccio selbst Giuseppe Ciavarini Azzi von der EG-Kommission zugeben, „als Fehlschlag“ herausgestellt: „Die Disparitäten zwischen den Inseln und dem Kontinent haben sich in den letzten Jahren nicht verringert.“ Kein Wunder, erwiderte der korsische Regionalrat Ferracci: „Wohin gehen denn die EG-Gelder? Im wesentlichen doch in den Tourismus.“ Die zu drei Vierteln mit Strukturfonds-Geldern finanzierte Verlängerung der Landebahn von Funchal (Madeira) etwa wird vor allem den Direktflug zu den Streßkapitalen des Kontinents ermöglichen. Der Tourismus nämlich ist der einzige Sektor, in dem Europas Inseln komparative Vorteile haben, und der deshalb in der Logik der Integration seinen Ort findet. Nur mag an den Billigtourismus mittlerweile kein Insulaner mehr sein Herz hängen. Die Berichte aus den Balearen, die von Franco zu betonierten Devisenquellen bestimmt worden waren, sprechen für sich: acht Millionen Besucher bei knapp 800.000 Einwohnern, Verschwinden der bäuerlichen Landwirtschaft und Entstehung einer neuen Kompradoren-Klasse von Neckermann -Kollaborateuren. Dreiviertel der Küste sind erfolgreich verbaut - und jetzt bleiben plötzlich die Touristen weg. Eine viertel Million Betten blieben diese Saison leer. Die launischen Gäste aus dem Ausland haben inzwischen Geschmack an Ökologie und Unberührtheit gefunden.
„Was also tun?“ fragt sich das Insulanertreffen. Kreta, eine der wenigen Inseln, die einmal ganz groß waren, wußte Antwort: Maria Kassotakis von der Inselregierung schlug vor, die Insularität mittels Modernisierung ganz einfach zu vergessen. Durch Ausbau und Liberalisierung von Luft- und Fährverkehr, ausgetüftelte Containertechnologie sowie durch Verwendung von Telecom werde Kreta, so berichtete sie mit leuchtenden Augen und in makellosem Englisch, immer mehr an das Festland heranrücken, ja zur Drehscheibe im Nord-Süd -Handel werden.
Dieser europhile Optimismus der Anpassung stieß bei Korsen, Sarden und Kanaren - bei aller insularer Solidarität - auf wissende Skepsis: „Eine Insel ist ein Gefängnis“, gab der weißhaarige Präsident der korsischen Regionalversammlung, Jean-Paul de Rocca Sera, zu bedenken, und daran werde sich auch im Kommunikationszeitalter nichts ändern. Nein, fuhr er fort, die Inseln dürften sich nicht anpassen, sondern müßten ihre Verschiedenheit bewahren, auch und gerade wenn Europa die Vereinheitlichung auf ihre Fahnen geschrieben hätte.
Konkret: Die Inseln müßten sich aus der Politik des großen Raumes heraushalten und gegenüber Kommission und Rat einen Sonderstatus in den entscheidenden Fragen Besteuerung und Verkehr behaupten. Die Hauptsorge der Inseln ist, daß Brüssel ihre steuerlichen Privilegien wegvereinheitlichen könnte. Bis auf die meisten der griechischen Inseln besitzt jedes meerumspülte Fleckchen Europas zur Zeit einen fiskalischen Sonderstatus. Madeira versucht sich an einer Freihandelszone und hat dazu von Lissabon, ebenso wie die Azoren, 70 Prozent der Mehrwertsteuer erlassen bekommen. Korsika genießt schon seit Napoleons Zeiten einen Sonderstatus bei den Verbrauchssteuern.
Jetzt ist nur die Frage: Was wird Brüssel zu diesen Extrawürsten sagen? Denn Delors‘ Kommissare streben nach der Vereinheitlichung der Steuersätze, ohne die ein Binnenmarkt kein solcher wäre. Darauf angesprochen, griffen die EG -Vertreter in Ajaccio zu ihrem Katechismus, der Einheitlichen Akte. Dort steht geschrieben, daß die Gemeinschaft Sorge zu tragen habe um den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der EG - inklusive ihrer Inseln. Gewiß hat die EG ein Herz für „ultraperiphere Gebiete“, und gewiß fließt jährlich mancher ECU an die Peripherie, sofern er nicht auf seinem langen Weg von der Zentralregierung oder der Mafia einkassiert wird. Aber welchen Sinn hat es, fragte sich ein Inselbewohner, den Bau von Flughäfen zu fördern und gleichzeitig die kontinentale Besteuerung von Flügen auch auf den Inseln zu verlangen, also Inselflüge zu verteuern?
Daß es zu derartigen Widersprüchen kommt, liegt auch daran, daß in Brüssel nicht Bastia, Cagliari oder Palma verhandeln, sondern Paris, Rom und Madrid. Solange Inseln wie Korsika eine innere Autonomie verwehrt wird, sieht Inselforscher Thierry Biggi von der Universität Corte den einzigen Ausweg in einer engeren Kooperation der Isolierten: „Es ist einfacher, Insel in Europa zu sein als Insel in einem Nationalstaat. Bisher hat kein einziger der Nationalstaaten eine Politik für die Inseln geführt - es waren immer Regionalförderungen für strukturschwache Gebiete. Im Rahmen der EG kann es möglich sein, eine spezifische Politik für die Inseln durchzusetzen. Die Inseln werden im Laufe der Harmonisierung einige Vorteile, die die Nationalstaaten ihnen gewährt haben, aufgeben müssen. Aber gegenüber Brüssel werden sie ihren Sonderstatus zum ersten Mal selbst verhandeln können.“
Eine Schwächung der Nationalstaaten durch den Ausbau der EG könnte, so hofft selbst der korsische Nationalisat Max Simeoni, eine Vernetzung der Regionen erleichtern. Seit jeher wird Korsika auf den französischen Landkarten diskret vor die Bucht von Nizza montiert - aus kartographischen Gründen, versteht sich. Kein Schulkind käme auf den Gedanken, daß Korsikas nächster Hafen weder Nizza noch Marseille, sondern Livorno heißt und in Italien liegt. Die erzwungene Orientierung auf Marseille ist zusammen mit den Monopolpreisen der staatlichen Transportunternehmen einer der Gründe, daß von den 2,7 Milliarden Franc, die Korsika exportiert, nur 17 Prozent in das Land zurückfließen. Eine Lockerung der nationalstaatlichen Grenzen könnte da manche der aufgezwungenen Bindungen ins Schwimmen bringen.
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