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Die Philosophie darf nicht länger „Magd der Politik“ sein

Vorläufige Erklärung, diskutiert auf dem VII. Kongreß der DDR-Philosophen  ■ D O K U M E N T A T I O N

In Klammern sind Kritik und Änderungswünsche wiedergegeben, die in der Debatte zur Erklärung geäußert wurden.

Im geistigen Aufbruch zur Erneuerung des Sozialismus in unserem Land werden Wort und Tat der Philosophen gefragt. Marxistisch-leninistische Philosophie hat ihre kritische, revolutionäre Funktion, gerade in der gegenwärtigen Situation, wahrzunehmen. Wir („Wer ist überhaupt das 'Wir‘? Auch die bisherigen Dogmatiker?“) müssen selbstkritisch („Diese Selbstkritik greift zu kurz.“) feststellen, daß wir bislang nicht mit an der Spitze dieser revolutionären Bewegung stehen. Doch wir sind uns bewußt, daß ohne feste und glaubwürdige weltanschauliche Positionen Erneuerung weder durchgesetzt noch unumkehrbar gemacht werden kann. (Hier wurde ein Passus zum Kampf gegen die „Feinde des Sozialismus“ eingefügt.)

Der auf unserem Kongreß in Gang gekommene Verständigungsprozeß über Aufgaben und Verantwortung der Philosophen bei der revolutionären Erneuerung unserer Gesellschaft muß zu einer wirklichen Neubesinnung führen.

Es ist erforderlich, daß unsere Philosophie ihr Verhältnis zur Politik neu bestimmt. Dabei sind solche politischen Strukturen radikal zu verändern, die Tendenzen erzeugten, die Philosophie zu einer „Magd der Politik“ zu degradieren. Dieses neue Verhältnis hat die Wiederherstellung und Ausbildung der kritischen Funktion der Philosophie zur Voraussetzung. Unser Anliegen ist es, einen wirksamen weltanschaulichen Beitrag zur geistigen Öffnung und Ausprägung eines schöpferischen Klimas in unserer Gesellschaft zu leisten. Dabei wollen wir stärker das innovative Potential unserer Philosophie zur Geltung bringen und Glaubwürdigkeit wiedergewinnen. („Wiedergewinnen? Hatten wir denn je die Glaubwürdigkeit?“) Wir drängen auf Gleichstellung aller philosophischen Institutionen, die eine Monopolisierung von Forschungsthemen ausschließt und eine intensivere, gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen ihnen fördert.

Viele Menschen in unserem Land fühlten und fühlen sich bedrängenden Sorgen und Ängsten ausgesetzt. Sie wurden damit von unserem bisherigen Philosophieren in mancherlei Hinsicht alleingelassen. Tief betroffen von der Abwendung vieler Bürger von unserer Gesellschaft, engagieren wir uns dafür, daß die ökonomische und soziale Entwicklung konsequent an humanistischen Werten und Idealen orientiert wird. Sie müssen ein wirkliches Angebot für einen gesellschaftlichen Konsens sein und die persönliche Identifizierung mit einer realistischen sozialistischen Politik ermöglichen.

Wir erwarten, daß die marxistisch-leninistische Partei der Arbeiterklasse ein Aktionsprogramm ausarbeitet, das darauf gerichtet ist, die aktuellen politischen Probleme zu lösen und eine Gesellschafts-, Wirtschafts- und Wissenschaftsstrategie zur revolutionären Erneuerung des Sozialismus zu entwickeln. Erforderlich ist die demokratische Erneuerung der Partei und die Bildung einer kompetenten und moralisch integren Führung. Dies ist ein wesentlicher Schritt, um das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen und den Führungsanspruch nicht nur zu deklarieren. Es ist ferner eine realistische Einschätzung der politischen Lage, des Entwicklungsstandes unserer Gesellschaft und der Ursachen erforderlich, die zur Folge hatten, daß die Führung sich dem Volk und der Realität entfremdete und die Partei die Initiative verlor. Wir verlangen, daß die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Wir unterstützen alle Bestrebungen, in unserer Gesellschaft demokratische Strukturen zu schaffen und zu nutzen, die garantieren, daß die Bürger unseres Landes Einfluß auf die Entscheidungsvorbereitung, Entscheidungsfindung und Kontrolle auf allen Ebenen nehmen und ihre Bedürfnisse und Interessen verbindlich einbringen können.

Notwendig ist die Bildung einer selbständigen Arbeitsgruppe marxistisch-leninistischer Gesellschaftswissenschaftler der DDR, die die Ansätze und Überlegungen zur Ausarbeitung einer neuen Sozialismuskonzeption zusammenführt („Ich sehe die Führungsposition nicht.“) und fortsetzt.

Wir unterstützen die Bildung einer philosophischen Gesellschaft, in der jeder philosophisch Interessierte Mitglied werden kann.

Dialektische Philosophie, die angetreten ist, Widersprüche der Wirklichkeit im Denken zu erfassen, auszuhalten und als intellektuelle Triebkraft zu begreifen, lernt es nun, mit den widerstreitenden Meinungen von Philosophen zu leben. Wir stehen am Anfang eines geistigen Aufbruchs. Wir tragen die Verantwortung dafür, den Anspruch der Vernunft nicht gefährden zu lassen, ja ihn zu sichern. („Wir sollten betonen, daß wir Impulse der Perestroika ungenügend genutzt haben.“)

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