Rezepte statt Analysen-betr.: "Kombinatsstruktur aufbrechen", taz vom 28.10.89, und "SED bittet zum Dialog", taz vom 30.10.89

betr.: „Kombinatstruktur aufbrechen“, taz vom 28.10.89, und „SED bittet zum Dialog“, taz vom 30.10.89

„Aus gegebenem Anlaß“ setzte die taz ihre Serie zum EG -Binnenmarkt aus, die Modernisierung des Kapitalismus muß für ein Wochenende ohne kritische Begleitmusik auskommen. Wurde bis zur 34. EG-Folge Unabwendbares konstatiert und die Ohnmacht der westeuropäischen Linken bespiegelt, kommen jetzt endlich Nägel mit Köpfen, statt Analysen gleich Rezepte: Ganzseitig werden im Interview mit einer Abteilungsleiterin im Berliner Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung DDR-Strukturen „aufgebrochen“ und die „Notwendigkeit tiefgreifender Strukturreformen“ beschworen, nicht gerade ein publizistischer Alleingang in diesen Tagen. Die Therapie heißt Marktwirtschaft und soll dem DDR-Bürger offensichtlich statt der Trabbi- die Autogesellschaft bescheren, dazu das Leistungsprinzip und „beneidenswert volle“ Fleischtöpfe. Daß die letzteren mit fast 100 kg Fleischkonsum bereits so überquellen wie bei uns, ist der taz wohl entgangen.

Auch das Poly-Press-Foto auf der Titelseite am Montag empfand ich als deplaziert - der Dialog findet nicht mit Vopos in Einerreihe, sondern mit Tausenden von Bürgern statt, die Atmosphäre ist eine andere als in Prag, denn die chinesische Variante ist nun - hoffentlich - endgültig vom Tisch. Systemsicherung heißt jetzt Diskutieren, Integrieren und Kritik vorwegnehmen. Die Blockparteien erwachen plötzlich zu eigenständigem Leben, und die ganze Nationale Front zaubert ein Bild von Demokratie und Pluralismus, daß ich mich glatt an westliche Verhältnisse erinnert fühlte, als ich für 25 Mark mit vor'm, Roten Rathaus stehen durfte. Trotz „vermiedener konkreter Antworten“ beeindruckte die SED mit der versprochenen Reisefreiheit und der Amnestie für alle Fluchtdelikte - sicher in erster Linie der Versuch einer Selbstamnestie der DDR-Führung, um die Machtfrage zu umgehen. Die Forderung eines Mitglieds der „Vereinigten Linken“ nach einem attraktiven Sozialismus wurde mit anhaltendem Applaus erwidert, diesmal keine Pfiffe. Ich frage mich, warum solche scheinbar anachronistischen, nur jetzt nicht mehr von oben verordneten Bekenntnisse der von ihm Betroffenen zum Sozialismus der taz keine Zeile wert sind.

Bernhard Osterburg, Neuhausen