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Hierbleiben! Drübenbleiben!

■ Appelle von DDR-Opposition und Bundesregierung fordern Ausreisewillige zum Ausharren auf

Angesichts der weiterhin dramatisch hohen Zahl von DDR -Bürgern, die vor allem über die tschechoslowakische Grenze die DDR Richtung BRD verlassen, mehren sich in der BRD Stimmen, die die DDR-Bürger zum Bleiben auffordern. Auch in der DDR selbst werden die Appelle von Führung und Opposition dringlicher, die DDR nicht zu verlassen. Auf diese Rufe haben seit dem 4.November allerdings annähernd 50.000 DDR -Bürger nicht gehört. Allein von Mittwoch auf Donnerstag kamen 11.000 DDR-Übersiedler in der BRD an.

Am weitesten wagte sich in der BRD der Vizepräsident des Städtetages und Hannoversche Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg vor. Viele Großstädte und Ballungsgebiete seien voll, sagte er in einem Zeitungsinterview. Er rechne deshalb mit einem Aufnahmestopp für Aus- und Übersiedler. Hannover könne bald genötigt sein, diesen Schritt zu vollziehen. Er forderte Verhandlungen mit der Regierung in Ost-Berlin, um die Wanderungen in geordnete Bahnen zu lenken. Scharf kritisiert wurden seine Äußerungen vom FDP -Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Mischnik. Sie seien „politisch absolut gefährlich“, weil sie grundgesetzwidrig seien. Er räumte zwar ein, daß die Aufnahme der Flüchtlinge große Probleme mit sich bringe. Aber erst wenn es sichtbare Wirtschaftsreformen in der DDR gebe, sei zu erwarten, daß mehr DDR-Bürger wieder nach Hause zurückkehrten.

Bremen hatte am Montag als erste Stadt einen solchen Aufnahmestopp verkündet, stellte am Donnerstag jedoch wieder Unterkünfte für 200 Neubürger aus dem Osten zur Verfügung. Nächste Woche werden voraussichtlich die ersten Zivilschutzbunker belegt werden. Hierzu muß formal der Senat noch seine Zustimmung geben. Mit der Maßgabe „Offenhaltung aller Notunterkünfte“ gab das Bundesinnenministerium in der Wilhelm-Kaisen-Kaserne die ersten 200 Plätze frei. In Bonn hat nach einer ausführlichen Beratung der Situation im Kabinett Innenminister Wolfgang Schäuble am Donnerstag im Bundestag erklärt, jeder Übersiedler oder Flüchtling müsse damit rechnen, daß er auf längere Zeit in unzulänglichen Wohnverhältnissen leben müsse und viel schlechter wohnen werde, als er es wahrscheinlich in der DDR gewohnt gewesen sei. Wer sich mit dem Gedanken trage, in die Bundesrepublik zu kommen, solle dies vor seiner Entscheidung bedenken.

Schäuble wies darauf hin, daß in diesem Jahr bereits 225.233 Übersiedler aus der DDR und über 300.000 deutschstämmige Aussiedler aus osteuropäischen Staaten in die Bundesrepublik gekommen sind. Der zur endgültigen Unterbringung notwendige Wohnraum müsse erst noch gebaut werden und stehe nicht innerhalb von Wochen oder Monaten zur Verfügung. Zugleich ließ der Innenminister aber keinen Zweifel daran, daß die Grenzen der Bundesrepublik für Aus und Übersiedler offen bleiben werden. SPD-Chef Hans-Jochen Vogel hat alle ausreisewilligen DDR-Bürger aufgerufen, die Appelle der Schriftstellerin Christa Wolf und anderer „sorgfältig zu erwägen“, das Land jetzt nicht zu verlassen. Es sei zu wünschen, daß diese Worte Gehör fänden, und zwar nicht wegen der Probleme, die sich aus dem Fortdauern oder dem weiteren Ansteigen des Flüchtlingsstroms auch für die Bundesrepublik ergäben, erklärte Vogel am Donnerstag in Bonn.

Klare Appelle, das Ausbluten der DDR zu beenden, erwartet das Grünen-Bundesvorstandsmitglied Jürgen Meier vor allem von Bundeskanzler Helmut Kohl. Er müsse noch deutlicher sagen, daß die Menschen jetzt in der DDR bleiben sollten, erklärte Meier. Die „Doppelstrategie der Bundesregierung“, einerseits Verständnis für die Menschen zu haben, die in der DDR blieben, und andererseits alle herzlich zu begrüßen, sei in diesen „dramatischen Tagen wenig hilfreich“.

Bürgerrechtler in der DDR haben inzwischen damit begonnen, an der DDR-Grenze zur CSSR mit Flugblättern Ausreisende zum Bleiben aufzufordern. Die Bewegung „Demokratischer Aufbruch“ rief nach Angaben der Ostberliner Nachrichtenagentur 'adn‘ die Menschen auf: „Kehrt bitte um, oder kommt bald wieder!“ Mitglieder des Ortsverbandes „Demokratischer Aufbruch“ in Markneukirchen (Bezirk Karl-Marx-Stadt) hätten DDR-Bürger, die ihre Heimat verlassen wollten, auf offener Straße an der Grenze zur CSSR damit angesprochen.

'adn‘ zufolge reagierten die Bürgerrechtler damit „auf jene, die trotz erkämpfter Chance für einen Aufbruch den Weg des geringsten Widerstandes gehen wollen“. Man könne jetzt nicht fliehen und gerade jene im Stich lassen, die nach ihrer Arbeit bei Kälte und Regen wirkliche Demokratie einforderten, hieß es in dem Schreiben.

taz/dpa/ap/afp

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