piwik no script img

Karneval und Kater

■ Eine Stadt geht probieren

Volksfeststimmung an den Grenzübergängen. Freudentränen, Gesänge, Jubel, es ist alles so einfach und könnte so schön sein. Die Mauer ist weg, seit Stunden erst, und man fragt sich, ob man wirklich schon über die Folgen nachdenken darf. So lange haben wir auf eine Veränderung der Politik in der DDR gewartet, und vielleicht war es auch dieser „Fehlstart“, der dazu beigetragen hat, daß jetzt alles so schnell geht. Eine erstarrte Führung verhinderte über Jahre sinnvolle Politik überhaupt, nun schwemmt ein hektisches Krisenmanagement alle vermeintlichen Selbstverständlichkeiten hinweg. Geschichte findet wieder statt in all ihrer Alltäglichkeit und Faszination, banal und poetisch, als Rausch... Wenn wir wieder aufwachen, werden wir beginnen müssen, darüber nachzudenken, was das denn eigentlich bedeutet. Wie sind wir auf den Kater vorbereitet, der auf beiden Seiten der Mauer dieses Aufwachen begleiten wird?

Karnevaleske Volkskultur war und ist eine atemberaubende, antiautoritäre Unterbrechung alltäglicher Lohnarbeit. Nur scheinbar werden für Tage soziale und ökonomische Grundstrukturen außer Kraft gesetzt. Gleichzeitig aber sitzen in den Schaltstellen der Macht die, die nicht feiern. Sie haben den Vorteil einer klaren Perspektive. Vielleicht haben Herr Edzard Reuter&Co die Karten längst verteilt. Ein ruhiges, arbeitssames, überschaubares Gemeinwesen steht zum Verkauf, Kapital kann sinnvoll investiert werden, und die Idee des Sozialismus werden wir wieder den „Kopfarbeitern“ überlassen. Sie ist schöner, wenn man sie nicht in der Realität erproben muß.

Und trotzdem reizt es, darüber nachzudenken, ob es nicht doch noch eine Chance gibt. Es könnte doch auch Spaß machen, einen demokratischen Sozialismus zu probieren. Allerdings wird es viel Arbeit machen nachzuweisen, daß er durchaus attraktiv sein kann - human, demokratisch, ökologisch, sozial. Es sprechen nicht mehr allzuviele Argumente für diese Utopie, zu übermächtig erscheint der Druck, der aus überquellenden Schaufenstern kommt. Sozialismus kann nicht vergleichbar effizient sein, aber er hätte zumindest die theoretische Chance, eine andere gesellschaftliche Kosten -Nutzen-Rechnung aufzumachen und andere Qualitäten zu entwickeln. Es gibt Momente, da glaubt man einen Hauch dieser Chance zu spüren. Die große Demonstration am Sonnabend in Berlin war ein solcher, aber auch die alltäglich stattfindenden öffentlichen Diskussionen mit den politisch Verantwortlichen im ganzen Land könnten der Beginn eines Lernprozesses sein, der die Voraussetzung für eine wirkliche Volksdemokratie wäre. Wir feiern ja noch. Wenn der Kater kommt, werden wir sehen, ob der Ausverkauf nicht längst stattgefunden hat.

Stefan Richter, Berlin (DDR)

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen