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Brandt kommt zu Kundgebung nach Berlin

■ Zehntausende Ostberliner wechselten seit vergangener Nacht zu einem Besuch nach West-Berlin / Volksfeststimmung in der Stadt / Kundgebung mit Willy Brandt vor dem Rathaus / Kohl unterbrach Polenbesuch / In den Westen nur mit Ausweis noch bis Sonntag / Schulfrei für Berliner Schüler - Geschichtsunterricht auf der Straße

Berlin (ap/dpa/afp/taz) - Als am gestrigen Abend Berlins SED -Bezirkschef Schabowski auf der internationalen Pressekonferenz im östlichen Teil der Stadt die sensationelle Nachricht von der Öffnung der Grenzen und der Mauer eher en passant verkündete, dauert es einige Zeit, bis das fassungslose Erstaunen in Aktion umschlug. Doch dann brach über die Grenztruppen der DDR und über den westlichen Teil der Stadt das Ereignis herein. Berliner aus Marzahn, vom Prenzlauer Berg bis Wandlitz machten sich zu Zehntausenden auf den Weg, um Freunde und Verwandte in Kreuzberg oder Wilmersdorf zu besuchen, nach 28 Jahren „antifaschistischem Schutzwall“ am Kudamm zu bummeln oder um einfach nur einen Blick in die für sie bisher geschlossene Stadt zu werfen. In der Nacht dann Volksfeststimmung auf dem Bummelboulevard, Freudenfeste in beiden Teilen der Stadt.

Walter Momper, West-Berlins Regierender, brachte es bei seiner Antrittsrede vor dem Deutschen Bundesrat am heutigen Morgen auf die Formel: „Das deutsche Volk war in der Nacht zu Freitag das glücklichste Volk der Welt.“ Willy Brandt, zum Zeitpunkt des Mauerbaues 1961 regierender Bürgermeister in Berlin, sprach von „einer stillen Revolution“, die die bisherige Spaltung der Stadt Berlin und Deutschlands „hinter sich lassen wird“. Brandt wird nach bisher vorliegenden Informationen am heutigen Nachmittag im Anschluß an eine Sondersitzung des Berliner Senats, die für 16 Uhr einberufen worden ist, auf einer Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg sprechen. Auch Helmut Kohl, der seinen Polenbesuch unterbrochen hat, wird nach seiner Teilnahme an einer Sondersitzung des Bundeskabinetts für den Abend in Berlin erwartet.

An der Kundgebung werden wiederum die Bürger aus dem anderen Teil unserer Stadt teilnehmen können. Komplikationslos, wie es auch das Übertreten der Grenzen die ganze Nacht über gewesen ist. Offenbar überrascht von dem Ansturm auf die Mauergrenze, war von der Entscheidung des ZKs der SED keine Rede mehr, daß Privatbesuche vorher bei den Ostberliner Meldebehörden beantragt werden müssen. Es reichte der Personalausweis, und auch auf die Kontrolle dieser Papiere verzichteten die DDR-Grenzer bald gänzlich. Diese durch die Praxis erzwungene Handhabung der Ausreise aus der DDR soll nach vorliegenden Informationen noch bis einschließlich Sonntag gelten. Die bisher in den Westteil der Stadt gekommenen Ostberliner sind nach vorliegenden Informationen zum allergrößten Teil in der Nacht und am Morgen wieder zurückgekehrt. Nur rund 400 von ihnen sollen sich zum Aussiedeln aus der DDR entschlossen haben.

Die Berliner Schulen waren am heute geschlossen. Angesichts der Öffnung der Grenze forderte Schulsenatorin Sybille Volkholz Schüler und Lehrer dazu auf, in den kommenden Tagen die Chance zu nutzen, nach draußen zu gehen und Unterricht als lebendigen Anschauungsunterricht erfahrbar zu machen.

Von den Grenzübergangsstellen zu Westdeutschland wird gemeldet, daß dort der Andrang von Ausreisern eher gering war. Rund 1.500 kamen über den Übergang Herleshausen in den Westen, aus Rudolphstein in Bayern werden ähnliche Größenordnungen genannt. Am Lübecker Grenzübergang wechselten einige hundert DDR-Bürger mit ihren Trabis auf die Westseite des nun zusammengbrochenen Eisernen Vorhangs, manche, wie es heißt, um nur ein Bier in Lübeck zu trinken. Die Ausreisewelle von DDR-Bürgern über die CSSR ist jedoch trotz der sensationellen Entwickling noch ungebrochen. Annähernd 8.000 Menschen haben dort in den letzten Stunden die Grenze gewechselt.

Die Ostberliner Nachrichtenagentur 'adn‘ berichtet, daß am heutigen Morgen der erwartete Andrang auf die Paß- und Meldestellen in der ganzen DDR eingesetzt hat. Seit fünf Uhr morgens hätten sich in Erfurt zum Beispiel die Menschen angestellt, um die Paßformalitäten zu erledigen. Die Abfertigung durch die DDR-Behörden erfolge prompt und reibungslos.

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